Echte Jungs tragen Rosa

Eine Geschichte der Farben und Geschlechter • von Stefan Mendling

Berühmtes Liebespaar: Venus in Blau als Farbe des Himmels, Adonis in Rot als Farbe der Männlichkeit. Abraham Bloemaert: ­Venus und Adonis. 1632, Statens Museum for Kunst, Dänemark. Fotos: wiki

Gottesmutter Maria in Blau mit Jesuskind in Rosa (Ausschnitt). Duccio di Buoninsegna: Maestà. 1308, Dommuseum Siena.

Die „Rotröcke“ bei der Schlacht von Waterloo (Ausschnitt). Elizabeth Thompson: Scotland Forever! 1881, Leeds Art Gallery.

Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungs – diese Farbzuordnung ist heute selbst­verständlich. Doch noch vor 100 Jahren trugen echte Jungs Rosa, die Mädchen ­Hellblau. Dies war jahrhundertelang so – bis sich die Wahrnehmung von männlichen und weiblichen Farben veränderte.

Papa, was ist Mädchenfarbe?“ Meine dreijährige Tochter legt sehr viel Wert auf ihre Kleidung. Besonders die Farbe muss für sie standesgemäß sein. „Rosa“ ist meine intuitive Antwort. „Warum?“, will sie wissen. Hier beginnen meine Nachforschungen, und ich entdecke Erstaunliches. Was ich als naturgegeben ansah, ist in Wirklichkeit eine Laune der Mode. Denn noch bis 1920 hätte niemand Rosa für eine Mädchenfarbe gehalten. Rosa waren zum Beispiel die ersten Trikots der Spieler von Juventus Turin 1897. Rosa galt damals als „entschlossene und kräftige Farbe“, die besser zu Jungs passt, wie es 1918 noch in einschlägigen Modezeitschriften nachzulesen war. Blau hingegen war schon immer die Farbe der Frau. Wer sich im Mittelalter gefärbte Stoffe leisten konnte, der heiratete im blauen Brautkleid. Blau stand für Treue und Anmut. Auch der Bräutigam bekannte Farbe: In Rot oder Rosa trat er vor den Altar, während der Klerus in roten und purpurfarbenen Gewändern die Messe zelebrierte.

Farben waren allgegenwärtig und eine Sprache, die jeder verstand. Denn es gab jahrhundertelang eine religiöse Farbsymbolik: Durch alle Kulturen hindurch war Rot die Farbe des Mannes, weil sie für Blut, Krieg, Wut sowie Aggression und Leidenschaft stand, während Blau als die Farbe der Anmut, des Himmels, der Ewigkeit und der Treue galt. Farben ordneten die Welt – und so wie es Farben für Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder gab, gab es auch welche für Arme und Reiche.

Während Rot teuer und deshalb im Mittelalter nur den Adligen vorbehalten blieb, durfte Blau jeder tragen. Blau war relativ gut verfügbar, da es aus verschiedenen Pflanzen gewonnen werden konnte, beispielsweise Waid und Indigo. Man fand in den Pyramiden Mumien, die in Tücher eingewickelt waren, welche vor 5000 Jahren mit Indigo gefärbt wurden. Später wurde Indigo aus Indien importiert. Daher verbot der Deutsche Kaiser 1654 die Benutzung von Indigo und erklärte ihn zur „Teufelsfarbe“. Damit wollte er die deutschen Waidbauern schützen, die ebenfalls blauen Farbstoff herstellten. Indigo war jedoch das bessere Produkt, sodass das Verbot nicht fruchtete. Als die BASF 1897 den künstlichen Indigo auf den Markt brachte, trug das dazu bei, dass sich die Farbwahrnehmung ein für alle Mal veränderte.

Übrigens: Dass wir heute noch sagen, jemand mache blau oder sei blau, weil er Alkohol getrunken hat, kommt noch aus der Zeit, in der der blaue Farbstoff aus Waid hergestellt wurde. Denn, um Blau zu gewinnen, mussten die Waidblätter zwei Wochen lang der Sonne ausgesetzt und dabei regelmäßig mit Urin und Alkohol getränkt werden. Wenn die Färber also Blau machten, dann mussten sie viel Alkohol trinken, um diesen mit dem Urin an die Waidblätter weiterzugeben – je mehr getrunken wurde, desto blauer wurden Farbe – und Färber. Wenn diese also tagelang betrunken in der Sonne lagen, wusste jeder: Die machen Blau.

Blau als Symbolfarbe war jedoch für die Frauen reserviert – nach dem Vorbild der Jungfrau Maria, zugleich die am häufigsten gemalte Gestalt in der christlichen Kunst. Sie ist auf nahezu allen Darstellungen zu allen Zeiten mit blauem Mantel dargestellt. Darunter trägt sie meist ein rotes Kleid – als Zeichen für die besondere göttliche Erwählung. Die Farbkombination Blau und Rot vermischt sich zum hoheitlichen Purpur, das auf Gott den Herrscher hinweist. Viele Maler haben sich dieser Farbsymbolik bedient. Auch an Jesus sieht man in der Ikonografie oft beide Farben: Rot versinnbildlicht Blut und Leid, Blau die göttliche Herkunft, wobei bei Maria Blau, bei Jesus das Rot überwiegt. Diese Zweifarbigkeit ist ein besonderes Merkmal für die Heilige Familie und ist als Mischfarbe Violett zur Kennfarbe der evangelischen Kirche geworden.

Der rote Farbstoff war lange Zeit selten und kostbar. Er wurde aus der Karminschildlaus gewonnen. Nur betuchte Männer konnten sich den teuren Farbstoff leisten. Rot war daher die Farbe von Königen und Fürsten: Der royale Hermelinmantel war rot, Kronen waren mit rotem Stoff besetzt, wesentlicher Bestandteil der königlichen Insignien waren rote Rubine. Wer welche Farbe tragen durfte, wurde bis zur Französischen Revolution überall per Gesetz geregelt: Rot war die Farbe der Adligen. Die Farbintensität verriet außerdem etwas über die gesellschaftliche Stellung: Je reiner und leuchtender die Farbe, desto höher der Stand. Wer rote Kleidung trug, die nicht seinem Stand entsprach, wurde sogar hingerichtet. Dieser rigorose Umgang mit Modesünden wurde auch durch den Aberglauben befeuert, rote Kleidung verleihe dem, der sie trägt, Stärke und Macht. Henker trugen übrigens auch Rot, die Todesurteile wurden mit roter Tinte unterschrieben. Bis heute tragen hohe Richter rote oder purpurfarbene Talare. Rot ist außerdem die Farbe der Lehrer, die mit roter Tinte korrigieren. Rot ist seit jeher die Farbe der Kontrolle und Herrschaft.

„Rot gibt Kraft. Deshalb trugen Krieger Rot, oder sie bemalten sich mit roter Farbe“, schreibt Eva Heller in ihrem Standardwerk „Wie Farben wirken“. Schon die Krieger Gottes, die die Stadt Ninive angriffen, trugen Rot: „Die Schilde seiner Starken sind rot. Sein Heervolk ist in Purpur gehüllt“ (Nahum 2, 4). Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts trugen die meisten Soldaten rote Uniformen. So wurden die Soldaten der britischen Armee „Rotröcke“ genannt – bis im Jahr 1902 für das gesamte britische Heer die khakifarbene Uniform eingeführt wurde – auch, weil der rote Farbstoff Karmin zu teuer wurde. Doch bis heute ist der Rotrock als Paradeuniform in den Commonwealth-Staaten in Gebrauch. Auch die Leibgarde der Queen trägt neben der berühmten Bärenfellmütze noch heute die rote Grenadieruniform, in der auch Prinz William 2011 seiner Frau Catherine das Jawort gab. Sie trug übrigens ein weißes Kleid, in das angeblich ein blaues Band eingenäht war. Es ist ein alter englischer Brauch, der aus dem Viktorianischen Zeitalter stammt: Die Braut muss etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes und etwas Blaues tragen – Blau als Symbol der Treue. Schon in der Antike wurde gerne in Blau geheiratet. Als die weißen Hochzeitskleider in Mode kamen, überlebte das Blau in Miniatur – meist als Strumpfband.

Doch wie sah es mit den Farben für Kinder aus? Bis die ersten kochfesten Farben Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden wurden, war Babykleidung meist ungefärbt. Bis dahin war farbige Kinderkleidung ein Statussymbol der Reichen und Adligen. Nichtsdestotrotz verraten uns die Gemälde, wie die Farben auf die Geschlechter verteilt waren, allem voran die Heilige Familie: Maria als Mutter in Blau hält Jesus als Säugling im Arm, der in rosa Windeln gewickelt ist. Wird Jesus als Kind dargestellt, trägt er auf vielen Gemälden ein rosarotes Kleid – ebenso der kindliche Johannes der Täufer: Echte Jungs tragen Rosa. In überwiegend katholischen Gebieten von Holland, Belgien, Italien und der Schweiz blieb dies bis in die 1960er Jahre so.

Rosa ist über einen Umweg sogar zur liturgischen Farbe in der katholischen Kirche geworden: Im Rokoko stifteten Adlige ihre abgetragenen Kleider der Kirche, aus denen Paramente und liturgische Gewänder geschneidert wurden. Weil zu dieser Zeit vor allem Pastelltöne en vogue waren, erhielt die Kirche viele rosarote Stoffe. Da bislang aber nur Weiß, Rot, Grün, Schwarz und Violett zu den kirchlichen Farben gehörten, wurde 1729 auch Rosa zur liturgischen Farbe erklärt für den Sonntag in der Mitte der Fastenzeit und den dritten Adventsonntag.

Auch die Kunst hielt sich meist an den Farbcode: Venus und Adonis, ein beliebtes Motiv von Renaissance- und Barockkünstlern, lassen auf fast allen Gemälden die gleichen Hüllen fallen: Venus, der Inbegriff des Weiblichen, Göttin der Liebe, ist von blauem Tuch umgeben, zugleich Hinweis auf ihre göttliche Herkunft; Adonis, der Prototyp des Mannes, trägt Rosa oder Rot als Farbe der Attraktivität und Leidenschaft.

Außerdem galt Rot seit der Antike als Farbe des Kriegsgotts Mars. Damit war Rot jahrhundertelang die Farbe der Männer; die der Jungs war das abgeschwächte Rot, das auch „kleines Rot“ genannt wurde: Rosa – so lange, bis sich die Jungsfarbe von Rosa zu Hellblau gewandelt hat, wie Eva Heller in ihrem Buch über Farbsymbolik und Farbpsychologie erklärt: Mit dem blauen Farbstoff Indigo konnten große Mengen Stoff kostengünstig gefärbt werden. Als dann noch der BASF die synthetische Herstellung gelang, wurde Arbeitskleidung im großen Stil blau eingefärbt. Jeans und „Blaumänner“ schafften es schließlich, dass innerhalb kürzester Zeit die Männer blau wurden: Cowboys, Arbeiter, Matrosen. Als es außerdem Anfang des 20. Jahrhunderts gelang, die Farben kochfest und giftfrei herzustellen, wurden die Kleider der kleinen Männer in der Farbe der Arbeitswelt gefärbt – als Miniatur des männlichen Blaus in Hellblau. Für die Mädchen blieb damit nur Rosa als Modefarbe übrig.

Darum haben wir zur Geburt unserer Tochter rosa Strampler, rosa Söckchen und rosafarbene Plüschtiere geschenkt bekommen – weil sie ein Mädchen ist. Doch die Lieblingsfarbe meiner Tochter ist Lila, also das hellere Violett – und damit eine Mischung aus Blau und Rot und Weiß. Darum habe ich mich mit ihr darauf geeinigt: Lila ist Mädchenfarbe – zumindest solange es ihre Lieblingsfarbe ist.

Eva Heller: Wie Farben wirken. Farbpsychologie. Farbsymbolik. Kreative Farbgestaltung. Rowohlt, 2018. 296 Seiten, 16 Euro. ISBN 978-3-499-61960-1

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