Die Revolution der Zärtlichkeit

Mit dem Druck „ich will unbedingt“ erreicht man mitunter gar nichts – die sanfte Art nimmt Umwege und kommt so ans Ziel • von Martin Vorländer

Der Meister auf den Knien: Christus wäscht fürsorglich den Aposteln die Füße. Detail von Tafel drei der Silber Schatzkammer von Santissima Annunziata, Fra Angelico, um 1450. Foto: wiki

Wind kann sanft über die Haut streichen und ganze Felder bewegen. Foto: Pixabay

Schilfrohr besitzt eine erstaunliche Stabilität. Es diente zur Zeit der Bibel zur Abstützung. Jedoch schon ein kaum sichtbarer Knick kann reichen, und die Stütze ist dahin. Foto: Pixabay

Sanft, aber stark. So wirkt Gott in der Bibel. Er lässt sich hören in einem ­stillen, sanften Sausen. Wie wenn im Tohuwabohu des Lebens ein Moment der Ruhe einkehrt und man spürt: ­Darauf kommt es an. Ein Streifzug durch das Alte und das Neue Testament auf den Spuren der Zärtlichkeit Gottes.

In der Nacht hatte es gestürmt. Der Wind, ein früher Bote des Herbsts, hat den Sonnenschirm aus seinem Ständer gerissen und über die Terrasse gefegt. Eine Holzspeiche ist gebrochen. Sie sieht aus wie ein geknickter Flügel. „Schade“, sagt die Frau des Hauses. „Das war ein schöner Schirm. Naja, dann müssen wir wohl einen neuen kaufen.“ „Aber da kann man doch noch was machen!“, protestiert der Freund, der bei dem Ehepaar zu Gast ist. „Habt ihr Holzleim und Schraubzwingen?“ Er legt den Sonnenschirm wie einen Patienten auf den Verandatisch. Er leimt die Holzspeiche und platziert die Schraubzwingen, damit sie die gebrochenen Holzstücke zusammenpressen, während der Kleber trocknet. „Seht ihr, geht wieder!“, sagt er später am Ende seiner Operation.

Im Ersten Testament der Bibel sagt Gott von dem Menschen, den er beauftragt und zum Licht aller Völker macht: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen“ (Jesaja 42, 3). Gott wirkt fürsorglich. Er will nicht, dass man noch niedertritt, was schon am Boden liegt. Er hat ein Auge für die Geknickten und die Zerbro­chenen. Das ist keine gewaltige Machtdemonstration. Es ist eine sanfte, aber starke Kraft, mit der Gott wirkt. Im Prophetenbuch Jesaja ist es das biblische Volk Israel, das geknickt ist. Der König von Babylon hat Israel erobert und einen Teil der Bevölkerung ins Exil verschleppt. Die Stadt Jerusalem mit dem Tempel Gottes ist zerstört, das Land verwüstet. Da zeigt sich Gott von seiner sanften Seite. „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen.“

Wir sind es gewohnt, dass beschädigte Ware aussortiert wird. Ein Mensch mit einem Knick im Lebenslauf hat es schwer, wieder Anschluss zu finden. Gott zeigt Sinn für das Einzelne und Kleine, das verletzt ist. Er geht behutsam mit den Stellen um, an denen das Leben einen Bruch erlitten hat. Schilfrohre gibt es viele. Wenn eins angeknackst ist, bricht man es ganz ab und tauscht es aus. Die Botschaft Gottes dagegen ist: Da kann man doch noch was machen.

Zärtlichkeit Gottes. Kann man so von Gott sprechen und ihm menschliche Gefühle unterstellen? Die Menschen in der Bibel tun es. Sie beschreiben, dass Gott tröstet, „wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66, 13). Gott ist für sie wie ein Vater und wie eine Mutter, die ihr Kind lieb haben. Eltern helfen ihrem Kind beim Laufen lernen und bereiten es auf die Schwierigkeiten im Leben vor. Gott sagt von sich: „Ich hatte Ephraim laufen gelehrt und ihn auf meine Arme genommen“ (Hosea 11, 3). Ephraim ist ein Stamm des biblischen Volkes Israel.

Wenn die Bibel die Gefühle Gottes schildert, ist das keine „ziellose Befindlichkeitslyrik, sondern ein Mittel zur Kontingenzbewältigung“, schreibt Melanie Köhlmoos, Professorin für Altes Testament in Frankfurt. Die Menschen in der Bibel reflektieren und erzählen davon, was ihnen passiert und wie sie dabei Gott erfahren haben. Gott verhält sich nicht launenhaft aus dem Bauch heraus. Er setzt sich mit ganz bestimmten Gefühlen zur Welt in Beziehung. Zärtlichkeit ist ein starkes Gefühl der Zuneigung. Liebende sind zärtlich zueinander. So begegnet Gott: mit Liebe.

Zärtlichkeit beginnt mit dem Blick. Damit, dass jemand genau hinschaut und wahrnimmt, wie es einem anderen geht. Im 2. Buch der Bibel schuften die Israeliten bis zum Umfallen unter der Knute des Pharao in Ägypten. Sie sind bloße Sklaven, nur zum Arbeiten da, ohne Rechte, ohne Freiheit, ohne Zukunft. Da heißt es in der Bibel: „Und Gott sah auf die Israeliten und nahm sich ihrer an“ (2. Mose 2, 23).

Zärtlichkeit beginnt damit, dass ich den anderen wahrnehme und sehe, was er braucht. Es bleibt nicht beim Schauen und einem warmen Gefühl. Zärtlichkeit bedeutet Handeln. Bei Gott verändert sie die Welt. Gott befreit die Israeliten aus dem Sklavenhaus Ägypten. Der Auszug aus Ägypten ist in der Bibel das große Datum für die Revolution der Zärtlichkeit Gottes.

Es ist die leise, sanfte Stimme Gottes, die durch die Bücher der Bibel hindurch immer deutlicher zu hören ist. Oft überdröhnt Kriegsgeschrei diese Stimme, auch in der Bibel. Umso erstaunlicher sind die Momente, die inmitten von Schlachten und Brutalität zeigen, dass es ganz anders zugehen kann, ganz anders zugehen soll. Der Prophet Elia hat gerade einen Burn-out samt Depression hinter sich, weil er 450 heidnische Propheten erschlagen hat. Nirgendwo in der Bibel steht, dass Gott diesen Massenmord befohlen hätte.

Da führt Gott Elia auf einen Berg und zeigt sich ihm. Die Bibel erzählt: Erst kommt „ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach“. Aber Gott ist nicht im Wind. Dann kommt ein Erdbeben, dann ein Feuer. Aber Gott ist weder im Erdbeben noch im Feuer. Schließlich kommt „ein stilles, sanftes Sausen“. Da hört Elia Gottes Stimme und erkennt seinen eigenen Fanatismus. Elia sagt: „Ich habe geeifert“ (1. Könige 19, 11–14). Man würde erwarten, dass Menschen Gottes Kommen möglichst groß und gewaltig schildern. Ja, die Erde bebt, Felsen und Berge wackeln. Aber darin ist Gott nicht. Stattdessen lässt Gott sich hier hören in einem stillen, sanften Sausen. Elia spürt, er ist gemeint. Und versteht. Wie wenn im Tohuwabohu des Lebens ein Moment der Ruhe einkehrt und man spürt: Darauf kommt es an. Hier geht es lang.

Mit dem Druck „ich will unbedingt“ erreicht man mitunter gar nichts. Die sanfte Art nimmt Umwege und kommt so ans Ziel. Ich habe das so erlebt, als meine Mutter in Depression versunken war. Sie wollte morgens nicht mehr aufstehen. Sie wollte gar nichts mehr. Konnte nicht. Mein Vater war erst hilflos. Im Berufsleben war er immer ein Macher und Manager gewesen. Er war es gewohnt, klare Ansage zu machen, und dann wird’s so umgesetzt.

Aber mit klarer Ansage kam man jetzt bei meiner Mutter nicht weiter. „Steh auf, komm, du kannst doch nicht einfach liegen bleiben“ – solche Appelle brachten gar nichts. Dann ist mein Vater erfinderisch geworden und hat die sanften Umwege entdeckt. Er sagte zu meiner Mutter: „Du kannst ja noch liegen bleiben. Wir frühstücken dann schon mal unten.“ Es dauerte nur einen Moment, da war sie aus dem Bett. Er hatte den Druck rausgenommen und ihre Motivation, ihren Lebensgeist geweckt. Natürlich funktioniert das nicht immer, und es ist auch kein Allheilmittel. Aber es war ein Moment, der die Starre gelöst und etwas in Bewegung gebracht hat.

Zärtlichkeit hat eine stille, aber beharrliche Kraft. Jesus vergleicht die Kraft Gottes, sein Reich mit einem Senfkorn. Er nennt das Senfkorn „das kleinste unter allen Samenkörnern“. Aber es wird größer als alle Kräuter und „treibt große Zweige, sodass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können“ (Markus 4, 30–32).

Jesus öffnet den Blick für die große Kraft, die im Kleinen steckt. Sie setzt sich durch, nicht um andere zu verdrängen oder niederzumachen. Sie schafft Schutz und gibt Raum zum Leben. Jesus sagt: So ist das Reich Gottes. So wirkt Gott in der Welt. Die Kraft von Gottes Liebe „erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“ (1. Korinther 13, 7).

Das ist nicht duckmäuserisch. Im Gegenteil. So habe ich eine Frau bei einer Friedensdemonstration 2003 in München erlebt. Die USA und Großbritannien hatten den Irak unter Saddam Hussein angegriffen. In Deutschland haben viele gegen diesen Krieg demonstriert. Auch in München. Die Stimmung war aufgeladen. Einige Demonstranten wollten mit aller Gewalt durch die Fußgängerzone ins Stadtzentrum. Diese Strecke war aber nicht angemeldet. Die Polizei hatte den Durchgang abgeriegelt. Krawallmacher unter den Demonstranten wollten die Reihen der Polizisten durchbrechen. Von Einsatz für Frieden war bei ihnen nichts zu spüren. Sie wollten die Konfrontation mit der Polizei.

Da schlenderte eine ältere Dame zwischen den beiden Seiten hindurch. Ich kannte sie, eine Pfarrfrau, seit vielen Jahren in der Friedensarbeit aktiv. Sie sagte zu den aggressiven Demonstranten: „Kommt! Ihr seid doch klüger. Ihr könnt nachgeben. Nachgeben heißt nicht aufgeben. Wir demonstrieren hier doch für Frieden. Also wählen wir einen anderen Weg, nicht die Konfrontation.“ Jesus sagt in der Bergpredigt: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“ (Matthäus 5, 5).

Im Neuen Testament verkörpert Jesus die Zärtlichkeit Gottes. Der Evangelist Lukas erzählt: Gottes Sohn wird als ein Kind in einem Futtertrog geboren. Vor diesem Baby im Stroh fürchtet sich der König Herodes. Im Kleinen liegt die Kraft des Höchsten, die sogar Gewaltherrscher in Angst und Schrecken versetzt. „Welch eine Zärtlichkeit“, schreibt der Theologe Fulbert Steffensky. „Ein Gott, der bedürftig wird wie wir; der das Glück der Freundschaft und der Liebe kennt wie wir; der früh auf der Flucht ist, wie viele von uns, und den das Leben aufs Kreuz legt wie andere auch. Die pure Macht, Stärke und Größe hat noch niemanden gerettet. Aber die nicht weichende Zärtlichkeit ist der große Trost.“

Von einer besonderen Geste der Zärtlichkeit des erwachsenen Jesus erzählt das Johannes-Evangelium. Jesus legt sein Obergewand ab, bindet eine Schürze um und geht vor seinen Jüngern auf die Knie. Er, den sie ihren Herrn und Meister nennen, wäscht ihnen nicht den Kopf, sondern die Füße, einem nach dem anderen (Johannes 13, 1–17).

Die Fußwaschung war damals ein Zeichen der Gastfreundschaft, aber auch ein Zeichen der Ergebenheit. Meistens waren es Sklaven, die diese Aufgabe verrichtet haben. Vom Herumlaufen in Sandalen auf den staubigen Straßen waren die Füße dreckig und verschwitzt. Die Füße gewaschen zu bekommen, ist eine Wohltat. Das weiß, wer schon einmal eine Fußmassage bekommen hat.

Außerdem war es hygienisch, denn zur Zeit Jesu lag man in der Regel zu Tisch. Man hatte die Füße der anderen auf Nasenhöhe. Für alle Beteiligten also angenehmer, wenn die Füße sauber sind und gut riechen. Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße. Das liest sich im Evangelium wie eine gottesdienstliche Handlung: Gott dient. Gott will Menschen Gutes tun und ist sich nicht zu schade, vor ihnen auf die Knie zu gehen.

Wenn Gott so zärtlich begegnet, ändert das etwas unter Menschen. Jesus sagt, nachdem er seinen Jüngern die Füße gewaschen hat: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Seitdem wäscht nicht nur der Papst an Gründonnerstag anderen die Füße. An vielen Orten, in vielen Gemeinden findet dieser Brauch statt, der mehr ist als ein Brauch. Es gehört zum christlichen Glauben, aufmerksam zu sein, wo ich anderen Gutes tun kann. Jesus zeigt: Das fängt im Kleinen und ganz unten an.

Oft geht es anders zu. Es herrscht viel und große Brutalität. Da wirkt eine Geste der Zärtlichkeit hilflos und verloren. Mit Zärtlichkeit die Welt verbessern? Lächerlich! Der Glaube an den Gott der Bibel hält dagegen. In jeder kleinen, zarten Geste steckt Gottes Kraft. Ein geknicktes Rohr, das man nicht zerbricht, sondern stützt, ein Blick, der den anderen sieht, ein Wort, das aufrichtet – das alles ist unendlich wichtig, weil es die Welt zum Besseren wendet.

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