Die Katastrophe vor Lampedusa verändert die Debatte

Finanzierung eines Schiffs durch Kirchen humanitär geboten – Akademiedirektor Picker referiert in Ludwigshafen über Flüchtlingsproblematik

Im Oktober 2016 vor der libyschen Küste: Mitarbeiter des Rettungsschiffs Sea-Watch II versorgen gerettete Flüchtlinge. Foto: epd

„In den ersten beiden Wochen des Jahres 2020 werden bereits 89 Flüchtlinge vermisst, 63 davon im Mittelmeer“, sagte Christoph Picker, der Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz, bei einem Vortrag in der Melanchthonkirche in Ludwigshafen zum Thema „Tödliches Mittelmeer“. „Seit 2001 sind geschätzt mindestens 30000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken“, so Picker weiter. Er absolvierte im vergangenen Jahr ein Kontaktstudium in Rom und besuchte auch die Insel Lampedusa, auf der nordafrikanische Flüchtlinge nach der Überfahrt übers Mittelmeer den Boden der Europäischen Union (EU) betreten.

Zunächst beschrieb Picker die Situation auf Lampedusa. Die Insel sei 20 Quadratkilometer groß und habe 4000 Einwohner, die hauptsächlich von Fischerei und Tourismus lebten. Im Jahr 2015 seien 23000 Flüchtlinge auf die Insel gelangt. Die Lager, so Picker, veränderten das Gesicht der Insel, und auch das Lebensgefühl der Inselbewohner habe sich in den letzten Jahren verändert. Früher habe man ein beschauliches Leben geführt, heute stünde die Insel im Mittelpunkt der Öffentlichkeit; ständig seien Kamerateams vor Ort. Auch Papst Franziskus habe dort schon eine Messe gehalten.

Der 3. Oktober 2013 sei für Lampedusa einschneidend gewesen, erzählte Picker. Damals sei ein Schiff mit 450 Flüchtlingen vor der Insel in Brand geraten. „366 Menschen starben, und viele Inselbewohner beobachteten die Katastrophe und versuchten mit ihren Schiffen zu helfen“, erklärt Picker. „Das war ein Schlüsselerlebnis, das die Debatte verändert hat.“ Danach hätten die italienischen Kirchen die Organisation „Mediterranian Hope“ gegründet. „Seither ist immer jemand von der Organisation auf Lampedusa, beobachtet die Lage und hält Kontakt zur Bevölkerung“, so der Akademiedirektor.

Picker erläuterte die globale Dimension des Flüchtlingsproblems und fragte auch nach der Rolle der Kirchen für eine mögliche Problemlösung. Schockierend sei, dass die Zahl der Toten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Flüchtlinge in den vergangenen Jahren gestiegen sei. So hätten 2015 insgesamt 1015877 Menschen die Flucht übers Mittelmeer gewagt, davon seien 3771 gestorben; das sei einer von 269. Im Jahr 2018 habe es bei 166647 Flüchtlingen 2275 Tote gegeben und im Jahr 2017 bei 172324 Flüchtlingen 3139 Tote. Das sei einer von 55, bilanzierte Picker. In Libyen, dem Ausgangsland für die Flucht nach Lampedusa, lebten 650000 Afrikaner, die aus Ländern südlich der Sahara geflüchtet seien. Viele wohnten dort dauerhaft als Gastarbeiter, etwa 50000 davon in äußerst prekären Verhältnissen. 5000 Menschen würden in Internierungslagern gefangen gehalten. Diese seien meistens von der libyschen Küstenwache aufgegriffen worden.

Insgesamt, so Picker weiter, seien nach offiziellen Schätzungen weltweit fast 71 Millionen Menschen auf der Flucht. Das Land, in dem sich aktuell die meisten Flüchtlinge aufhielten, sei die Türkei mit etwa 3,5 Millionen. Die größte Dichte an Flüchtlingen weise der Libanon auf, wo eine Million Flüchtlinge etwa 6,2 Millionen Einheimischen gegenüberstünden. Angesichts dieser Zahlen herrsche eine weltweite Ratlosigkeit. Als das eigentliche Drama diagnostizierte er die Tatsache, dass es Menschen gäbe, die kein Recht darauf hätten, elementare Rechte zu haben. Dabei zitierte er die im Nationalsozialismus aus Deutschland geflohene Philosophin Hannah Arendt (1906 bis 1975) mit dem Satz, das Recht, Rechte zu haben, sei das elementarste Menschenrecht. Dieses Recht, so Picker, werde vielen Flüchtlingen vorenthalten.

Picker verteidigte den Beschluss des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, ein Flüchtlingsschiff mitzufinanzieren. „Das ist humanitär geboten, aber weil es nicht mit Italien abgesprochen ist, wird es wohl Schwierigkeiten geben“, so Akademiedirektor Christoph Picker. Martin Schuck

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