Die Dokumentation: Widerstreitende und innovative Kraft

Die Notwendigkeit der Ökumene zeigt sich vor allem in Zeiten des Umbruchs • von Annegreth Schilling

Die ersten drei Generalsekretäre des Ökumenischen Rats der Kirchen (von links): Eu­gene Carsen Blake, Philip Potter und Willem Visser ’t Hooft. Foto: epd

An drei Beispielen zeige ich, wo in der Vergangenheit ökumenische Zusammenarbeit notwendig geworden ist: im Ringen um eine Neuordnung Europas in der Nachkriegszeit, in der Ausprägung eines globalen Bewusstseins der Kirchen Ende der 1960er Jahre und im Umbruch in der DDR 1989/1990. Die Notwendigkeit von Ökumene zeigt sich dabei immer in zwei Richtungen: einmal nach innen, auf die ökumenische Zusammenarbeit gerichtet, deren Ziel die Verwirklichung christlicher Einheit ist. Und zum anderen nach außen, auf die öffentliche Stimme der Kirchen in die Welt.

Bereits die Gründung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) ist ein Beispiel für die Notwendigkeit von Ökumene, denn sie überdauerte den Zweiten Weltkrieg. 1937 wurde auf den Weltkonferenzen für Praktisches Christentum in Oxford und für Glauben- und Kirchenverfassung in Edinburgh die Gründung des ÖRK beschlossen. Der niederländische Theologe Willem Adolf Visser ’t Hooft wurde 1938 erster Generalsekretär. Aufgrund des Zweiten Weltkriegs dauerte es zehn weitere Jahre, bis 1948 der ÖRK in Amsterdam gegründet wurde. Aus dem verwüsteten Europa und einer endlich zum Frieden gefundenen Welt kamen in Amsterdam 351 Delegierte aus 146 Mitgliedskirchen zusammen, vor allem aus Nordamerika und Europa. Aus Afrika, Asien und Lateinamerika kamen nur 52 Delegierte, das waren etwa 15 Prozent.

Das Ziel des ÖRK war es, die Einheit der Kirchen für die Welt sichtbar zu machen. Das hat geholfen, die Vision für ein friedliches Zusammenleben im Nachkriegseuropa zu nähren. Der Sitz des ÖRK in Genf trug zu einer engen Verzahnung mit den Vereinten Nationen bei. Dennoch ist die Gründung des ÖRK nicht nur eine Erfolgsgeschichte, denn auch die Kirchen waren verstrickt in die politischen Konflikte des Kalten Kriegs, in deren Mittelpunkt die Wiederaufrüstung unter Verwendung von Nuklearwaffen stand. Der ÖRK war in der Zeit des Kalten Kriegs eine Kraft, die einerseits sich widerstreitende politische Positionen ins Gespräch brachte, die aber auch den Ost-West-Konflikt in sich selbst austragen musste.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte sich die Notwendigkeit der Ökumene nach außen so dar, dass die Kirchen ein sichtbares Zeichen für Frieden und Versöhnung in einer politisch gespaltenen Welt setzten. Andererseits bestand auch nach innen die Notwendigkeit der Ökumene: die Selbstverpflichtung der Kirchen, sich gegenseitig anzuerkennen und die sichtbare Einheit der Kirche voranzutreiben.

Anfang der 1960er Jahre wichen die Gebrochenheit und Unsicherheit der Nachkriegsjahre dem Optimismus zur Weltveränderung. Un­ab­hän­gig­keits­be­we­gungen in vielen Ländern Asiens und Afrikas erweiterten den Ost-West-Konflikt um die Frage nach den Nord-Süd-Beziehungen der Kirchen.

In der weltweiten Ökumene bildete sich seit dem Ende der 1950er Jahre die Notwendigkeit heraus, global zu denken. Aus der westlichen Ökumene zwischen New York und Genf entspann sich innerhalb des ÖRK immer stärker das Bewusstsein, die weltweite Christenheit zu vertreten. Dies spiegelte sich darin wider, dass Repräsentanten aus Afrika, Asien und Lateinamerika selbstbewusst ihre Rolle auf Konferenzen und auch innerhalb des Stabs des ÖRK wahrnahmen und eigene Themen auf die ökumenische Agenda setzten. Revolution und Befreiung waren die Stichworte, die den ökumenischen Diskurs dominierten. Lateinamerika spielte vor dem Hintergrund der politisch-repressiven und autoritären Politik des südamerikanischen Kontinents – insbesondere Argentinien, Uruguay, Brasilien und Chile – und den damit verbundenen revolutionären Aufbrüchen eine herausgehobene Rolle in der internationalen Ökumene. Dass hier auch konkret Not gewendet wurde, zeigte sich darin, dass der ÖRK Ende der 1960er Jahre zum ökumenischen Exil für eine Reihe politisch verfolgter Lateinamerikaner wurde. Julio de Santa Ana, Leopoldo Niilus und der spätere ÖRK-Generalsekretär Emilio Castro wurden als Mitarbeiter in den Stab des ÖRK berufen und gingen aus Lateinamerika ins Exil nach Genf. Der Bekannteste unter ­ihnen war der brasilianische Volkspä­dagoge Paulo Freire, der zehn Jahre lang im Genfer Exil lebte. Von dort aus konnte er in vielen Ländern sein innovatives Alphabetisierungsprogramm, das er in Brasilien entwickelt hatte, fortsetzen und ausbauen.

Die Notwendigkeit der Ökumene stellte sich in den 1960er Jahren also auch wieder in doppelter Hinsicht dar: Nach innen war der ÖRK ein Ort der Vergewisserung und des Zusammenhalts, wie am Beispiel des Exils deutlich wurde. Hier wurde auf ökumenischer Ebene Not individuell gewendet, was zugleich auch als politisches Signal nach außen an einige lateinamerikanische Militärdiktaturen gewertet wurde.

Ein drittes Beispiel für die Notwendigkeit der Ökumene stammt aus dem deutschen Kontext. Im Umbruch in der DDR spielten die protestantischen Kirchen eine hervorgehobene Rolle. Dies zeigte sich an den Friedensgebeten in Leipzig, Dresden und an vielen anderen Orten. Eine „protestantische Revolution“ war sie deshalb allerdings nicht. Denn entscheidend – oder notwendig – war auch hier die ökumenische Zusammenarbeit in Krisenzeiten.

Mehrere zeitgeschichtliche Studien haben auf die Bedeutung der ökumenischen Versammlungen 1988/89 in Dresden und Magdeburg verwiesen, die den Umbruch in der DDR inhaltlich vorbereiteten. Diese Versammlungen waren notwendige Orte des Austauschs darüber, wie sich die Menschen das Zusammenleben in der DDR-Gesellschaft und in der Welt vorstellten.

Während des Umbruchs im Herbst 1989 wurde der Zentrale Runde Tisch in der DDR ein Werkzeug, um sich widerstreitende Positionen dialogfähig zu machen. Ab Dezember 1989 war der Runde Tisch in Berlin das innovative Instrument, das den Dialog zwischen politisch-alternativen Gruppierungen, der SED und deren Oppositionsparteien bestimmte. Primäre Aufgaben waren die Vorbereitung freier Wahlen am 18. März 1990, die Aufhebung des Führungsanspruchs der SED sowie eine Verfassungsänderung. Diesem Vorbild folgend wurden ab Januar 1990 im ganzen Land regionale und lokale Runde Tische einberufen. Deren Ziel war es, im Dialog mit den politisch Verantwortlichen die Interessen der Bevölkerung zu artikulieren und zur Etablierung demokratischer Werte im politischen System der DDR beizutragen.

Die Kirchen traten als Vermittler zwischen den Gruppen und der SED und den Oppositionsparteien auf und stellten die Moderation des Runden Tischs. Die Moderation der ersten Sitzung übernahmen drei Personen unterschiedlicher Konfessionen: der evangelische Oberkirchenrat Martin Ziegler als Repräsentant des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR, der methodistische Pfarrer Martin Lange, Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der DDR, und der römisch-katholische Bischof Karl-Heinz Ducke, Vorsitzender der Berliner Bischofskonferenz. Diese Besetzung für die Moderation war nach innen gerichtet ein bedeutendes Zeichen für den ökumenischen Dialog in der DDR und speiste sich auch aus den guten ökumenischen Vorerfahrungen während des Konziliaren Prozesses der 1980er Jahre. Auch nach außen setzte die ökumenische Zusammensetzung in der Moderation des Zentralen Tischs ein Signal in der Öffentlichkeit, nämlich dass sich die Kirchen gemeinsam für einen gesellschaftlichen und politischen Erneuerungsprozess einsetzten. Die kirchlichen Vertreter trugen aufgrund ihrer Erfahrungen in den Synoden und der Gemeindearbeit zum Aufbau einer neuen Diskussionskultur bei, die im SED-Staat in dieser Weise unbekannt war.

Die drei Beispiele führen aus unterschiedlichen Perspektiven die Notwendigkeit der Ökumene im 20. Jahrhundert vor Augen. Aus protestantischer Sicht ist festzuhalten: Ökumenische Zusammenarbeit wurde insbesondere in Zeiten des Wandels und der Umbrüche notwendig und zeigte sich dabei immer als innovative und zugleich widerstreitende Kraft. Dabei zeichneten sich immer zwei Blickrichtungen ab: nach innen, auf der Suche nach sichtbarer ökumenischer Einheit und ökumenischer Vergewisserung zwischen den Kirchen, und nach außen, als Zeichen für das gemeinsame ökumenische Engagement der Kirchen in der Welt für Frieden, weltweite Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Freiheit und Demokratie.

Gegenwärtig befinden wir uns – auch jenseits der Corona-Krise – in einer Zeit des Umbruchs, etwa in Bezug auf die politische Parteienlandschaft in Deutschland, den Klimawandel oder die Frage nach der politischen Rolle und Bedeutung Europas. Das lässt darauf hoffen, dass die Notwendigkeit zu ökumenischer Zusammenarbeit in interkonfessioneller und interkultureller Dimension erkannt und weitergeführt wird, im ökumenischen Jahr 2021 und darüber hinaus.

Dr. Annegreth Schilling ist Pfarrerin in Frankfurt am Main. Der ungekürzte ­Beitrag erschien im Materialdienst 2-3/2020 des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim.

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