Die Dokumentation: Pandemie ist keine Strafe Gottes

Theologische Perspektiven auf die Erfahrungen mit dem neuen Coronavirus • von Beate Hofmann

Gebet: Eine Antwort auf die Grenzen menschlicher Gotteserkenntnis. Foto: epd

Dieses Papier soll theologisch Interessierten und suchenden Christinnen und Christen eine Gelegenheit zum Nachdenken über die Corona-Erfahrungen bieten. In den ersten drei Punkten werden durch die Pandemie hervorgerufene theologische Fragen und Deutungen aufgegriffen.

1. Wie lässt sich die Entstehung der Corona-Pandemie theologisch bewerten? Ist Corona eine Strafe Gottes oder Ergebnis politischer Verschwörung?

Die Corona-Pandemie ist keine Strafe Gottes. Sie ist eine Folge menschlicher Verwundbarkeit und globaler Mobilität. In ihren unterschiedlichen Auswirkungen auf Menschen weltweit ist sie auch Folge von Ungerechtigkeit auf dem Hintergrund von grenzenlosem Profitstreben und mangelnder politischer Steuerung. Das hat zu maroden Gesundheitssystemen und ungleichem Zugang zu guter medizinischer Versorgung, zu Bildung, zu hygienischen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten geführt.

Erläuterung:

Die Corona-Pandemie ist eine „Katastrophe mit Ansage“, in der natürliche und kulturelle Ursachen ineinander verwoben sind. Aufgrund unserer globalisierten Wirtschaft und Touristik lässt sich die Verbreitung solcher Krankheiten nur schwer lokal begrenzen. Globale Anfälligkeit für Krankheiten und die Bedrohung von Leben, Gesundheit und wirtschaftlicher Entwicklung weltweit sind die Schattenseiten hoher Mobilität und Vernetzung.

Corona führt uns eindringlich vor Augen, dass nicht alles auf dieser Welt durch Technik und Naturwissenschaft in den Griff zu bekommen ist. Unser Leben bleibt zerbrechlich und begrenzt. Das gehört zu den existenziellen Erfahrungen, egal, ob zu biblischen oder heutigen Zeiten. Wir leben in der Spannung von Freiheit und radikalen Grenzen, von Selbstbestimmung und weltweiter Abhängigkeit, von vielen Entwicklungsmöglichkeiten und bleibender Zufälligkeit. Das ist der Rahmen unseres Lebens, in dem Gott uns ­Freiheit und Entfaltungspotenziale schenkt. In diesem Rahmen können und sollen wir Verantwortung wahrnehmen. Eine fatalistische Haltung („Es ist alles Gottes Wille“) übersieht diese Verantwortung, während der Machbarkeitswahn des „Homo faber“ – des Menschen als Macher und Hersteller – die eigenen Grenzen übersieht.

Viele Menschen erleben die Pandemie als Anfechtung ihres Glaubens und Infragestellung ihres Weltbilds. In dieser Verunsicherung werden sie empfänglich für scheinbar plausible und vereinfachende Erklärungen. Doch die Behauptung, das Coronavirus sei absichtlich erzeugt und verbreitet worden, entbehrt jeder faktenbasierten Grundlage. Solche Verschwörungstheorien reagieren auf die Erfahrung von Kontrollverlust, indem sie „Schuldige“ suchen. So war es schon bei den Pestepidemien des Mittelalters, bei denen zu Unrecht „die Juden“ als „Schuldige“ identifiziert wurden.

Wer aus dem Vertrauen auf Gott und seine Gnade lebt, kann Komplexität und Ambivalenz aushalten, braucht weder falsche Erklärungen noch vermeintlich Schuldige. Wer die Corona-Pandemie als Strafe Gottes versteht, muss erklären, warum gerade die, die in Armut leben, die krank oder hochaltrig sind oder sich um Kranke kümmern, von der Krise am stärksten betroffen sind. Warum sollte Gott gerade diese Menschen bestrafen?

2. Ist die Deutung von „katastro­phalen Ereignissen“ als Gericht oder gar als Strafe Gottes theologisch ­angemessen und hilfreich?

Die Deutung von katastrophalen Ereignissen als Strafe Gottes widerspricht der zentralen christlichen Botschaft, dass Gott sich in Jesus Christus als liebender, nicht als strafender Gott gezeigt hat.

Erläuterung:

Die Deutung von Katastrophen als göttliche Reaktion auf menschliches Fehlverhalten findet sich in der Bibel in der Sintflutgeschichte oder bei den Plagen vor dem Auszug Israels. Diese Deutungen sind der Versuch, eine Ursache für unerklärliche Ereignisse zu finden und die Erfahrungen von Not, Krankheit und Tod mit dem Bild eines liebenden und gerechten Gottes zusammenzubringen.

Dank der Naturwissenschaft wissen wir heute mehr darüber, wie es zu Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder einer Pandemie kommt. Manche Katastrophen, wie die Folgen des Klimawandels, sind menschengemacht. Andere, wie Erdbeben, sind Naturereignisse. Wir leben aber in Zeiten, in denen sich die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen oft schwer ziehen lassen: Dass Unwetter zu Überschwemmungen führen, dass es viel Starkregen und Dürre gibt, hat auch mit der Abholzung des Regenwalds, dem Abschmelzen der Polkappen, der Versiegelung von Grünflächen und der Begradigung von Flüssen zu tun, wie die Corona-Pandemie eben auch mit gestiegener Mobilität und globalisierter Wirtschaft zusammenhängt.

Unser schuldhaftes Handeln hat Folgen für unser Leben; doch diese Auswirkungen sind Folge menschlichen Handelns und nicht von Gott verordnete Strafe. „Strafe“ ist auch deswegen für eine christliche Deutung von Erfahrungen eine fragwürdige Kategorie, weil Gott sich in der Bibel als der liebende Gott zu erkennen gibt, der mitleidend auf der Seite der Schwachen steht. Gott ringt um die Beziehung zu den Menschen und nimmt in Jesus Christus selbst die Konsequenzen der Sünde und Gottesferne der Menschen auf sich.

Das Gericht Gottes, von dem auch Jesus spricht, begegnet uns nicht als Verurteilung oder Verdammnis, sondern es deckt die Wahrheit über unser Handeln auf und legt – unter dem Zuspruch der Vergebung – Versäumnisse und Schuld offen. Die Corona-Pandemie hat viele Versäumnisse, Brüche und Defizite in unserer Welt freigelegt und führt uns an die Grundfragen unserer Existenz sowohl als Gesellschaft wie auch als Einzelne. In diesem Sinne kann sie im Licht des christlichen Glaubens als Gericht über ungerechte Lebensbedingungen gedeutet werden und als Aufruf, das Leben anders zu gestalten.

Die Existenz von Übel und Bösem verweist uns darauf, dass wir noch nicht erlöst sind, sondern auf die Erlösung hoffen. So schreibt Paulus: „Das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden“ (Römer 8, 19). Wenn Hoffnung neben Angst tritt, nimmt sie der Angst die Macht und schafft Raum dafür, klug und in Ausrichtung auf die Zukunft und das Wohl unserer Nächsten zu handeln.

Denn auch in der Corona-Krise sind wir dem Virus nicht ohnmächtig ausgeliefert, sondern haben Möglichkeiten, mit der Bedrohung verantwortlich umzugehen, dadurch, dass wir Abstand halten, wichtige soziale Kontakte begrenzen und auf Begegnungen verzichten, um Leben zu retten. Und gleichzeitig können wir Sorgenetze knüpfen und für den Schutz, aber auch die Teilhabe der besonders Gefährdeten eintreten. Durch Corona sind wir gefragt, ob wir Vertrauen haben und aus diesem Vertrauen heraus verantwortungsvoll leben und getrost auf den Tod zugehen.

3. Warum lässt Gott solche ­Katastrophen und solches Leid zu? Kann er sie nicht verhindern, oder
will er das nicht?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Sie bleibt eine Herausforderung für unseren Glauben und führt uns die Grenzen unserer Gotteserkenntnis vor Augen. Theologische Antwortversuche führen ins Gebet oder richten den Blick auf das Kreuz Christi als Ausdruck des mitleidenden Gottes.

Erläuterung:

Leid und Katastrophen stellen das Bild von einem liebevollen, zugewandten Gott grundsätzlich infrage. In der christlichen Theologie gibt es verschiedene Versuche, damit umzugehen. Martin Luther hat darauf hingewiesen, dass Gott verschiedene Seiten hat, nicht nur die liebevolle; es gibt auch andere, unverständliche.

Die biblischen Psalmen legen eine Spur, wie wir mit diesen Fragen leben können. Sie deuten Elend und Unglück nicht als Laune Gottes. Diese gehören zur menschlichen Existenz. Manchmal sind sie Folge menschlicher Freiheit oder sündiger Strukturen. Und manchmal sind sie – wie in der Hiobsgeschichte – für uns nicht erklärbar, weil wir die Welt nicht mit Gottes Augen sehen können. Darum hilft nur, so wie die Psalmbeter, sich an den gnädigen und barmherzigen Gott zu klammern und Gott und uns selbst an seine Zusage von Heil und Gnade zu erinnern.

Eine andere Spur in der Bewältigung der Frage nach Gott im Leiden führt zu Kreuz und Auferstehung Christi. Im Leiden und Sterben von Jesus Christus am Kreuz zeigt Gott: Jesu Leiden ist Solidarität mit allen, die Unrecht erleben. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist ein Nein Gottes zu einem Handeln, das Menschen zu Opfern macht, das Leben aus Machterhalt und Profitgier heraus zerstört oder gefährdet. Wenn uns Katastrophen herausfordern, braucht es die ehrliche und demütige Wahrnehmung menschlicher Grenzen und eine Solidarität, die sich in diakonischem und politischem Engagement wie in der Fürbitte zeigt. In der Passion Christi wird deutlich, dass Gott seine Macht nicht durch Gewalt ausübt. Seine Kraft ist „in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12, 9).

Beate Hofmann ist Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Die Thesen stehen auf der Internetseite www.ekkw.de (Direktlink: https://www.ekkw.de/aktuell/meldung/aktuell_31090.htm).

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