Die Dokumentation: Kirche muss Brüche in Kauf nehmen

Der Reichtum Christi kann nicht in einer einzigen Tradition bewahrt werden • von Thomas Stubenrauch

Tradition ist nicht nur eine lineare Entwicklung: Das II. Vatikanische Konzil hat in den 1960er Jahren zahlreiche frühere Lehrentscheidungen korrigiert. Foto: epd

Warum dieses Ringen um die Tradition in allen Kirchen? Weil wir darum wissen, dass unser Glaube weder vom Himmel gefallen noch eine bloße abstrakte Lehre ist, sondern eine zutiefst geschichtliche Dimension hat. Er ruht auf historischen Ereignissen, die wir als Berührpunkte zwischen Himmel und Erde deuten: vor allem auf der Menschwerdung Jesu Christi, seinem Leben und seiner Botschaft, seinem Tod und seiner Auferstehung. Jede Tradition will an diese Ereignisse erinnern, sie im Licht der Gegenwart deuten und uns so in die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen mithineinnehmen.

Und diese geschichtliche Dimension des Glaubens setzt sich nach der Himmelfahrt Jesu fort. Die Zeuginnen und Zeugen seines Lebens und seiner Auferstehung zogen von Jerusalem hinaus in die ganze Welt und führten seine „Sache“ begeistert und begeisternd weiter. Die 2000-jährige Geschichte der Kirche – sie ist eine Geschichte der Bildung und Weitergabe von Traditionen.

Damit hatte und hat die Tradition der Kirche vor allem ein Ziel: dass wir die Verbindung zu unserem Ursprung nicht verlieren. Dass wir unserer Sendung treu bleiben und so unsere Identität bewahren. Hier liegen der Sinn und die unverzichtbare Bedeutung von Traditionen. Doch – rechtfertigt das, dass in der Kirche alles so bleiben muss, wie es schon immer war?

Der Apostel Paulus gebraucht für den Prozess der Glaubensweitergabe ein treffendes Bild: das vom Schatz in zerbrech­lichen Gefäßen (2. Korinther 4, 7). An diesem Bild lässt sich wunderbar aufzeigen, wie wir Traditionen richtig verstehen sollen – und wie nicht.

Ein erster Gedanke: Wer oder was ist im paulinischen Bild der Schatz, der uns in zerbrechlichen Gefäßen anvertraut ist? In den Versen davor heißt es: „Wir verkünden … nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen.“ Das heißt: Der Schatz, den wir weitergeben sollen, ist kein totes Ding; keine museale Sammlung von Gesetzen oder Wahrheiten. Der Schatz ist etwas zutiefst Lebendiges, Pulsierendes, eine Person … Ja, Gott selbst.

Weil der Schatz das unfassbare, unbegreifliche Geheimnis Gottes selbst ist, deshalb braucht es Gefäße, damit wir ihn (zumindest ansatzweise) fassen und begreifen können. Irdische Gefäße, wie Luther übersetzt. Das heißt: Gefäße nach Menschenart, aus unserem Erfahrungsschatz, in unserer Sprache. Gefäße, die durchlässig sind für das verborgene Wesen Gottes. Solche Gefäße können Glaubenssätze, Kirchenstrukturen und gottesdienstliche Ordnungen sein. Mit ihrer Hilfe wird für Menschen der Schatz des göttlichen Lichts zu einer bestimmten Zeit hörbar und greifbar. Aber sie sind (!) nicht der Schatz. Deshalb müssen auch die Gefäße lebendig sein, nicht toter Buchstabe. Beweglich und formbar; keine starren Gesetze und Vorschriften, die den Glauben und damit auch die Glaubenden einengen. Die eigentlichen und einzigen Gefäße, in die er sich einfangen lässt – das sind lebendige Menschen: seine Jünger, die Zeugen seiner Auferstehung waren und von ihm den Auftrag erhalten haben, seine Frohe Botschaft bis an die Enden der Erde zu tragen. Auch Sie und ich sind solche Gefäße.

Ein zweiter Gedanke: Das paulinische Wort vom Schatz und den Gefäßen wird von der Einheitsübersetzung so übersetzt: „Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen.“ Zerbrechlich – darin steckt das Wort „Bruch“. Allzu oft waren und sind unsere Kirchen – vor allem auch meine katholische – bestrebt, Tradition als eine lineare Entwicklung zu denken. Papst Benedikt XVI. warb immer wieder für eine „Hermeneutik der Kontinuität“. Das II. Vatikanum ist für ihn kein Bruch mit der Tradition, sondern eine organische Fortentwicklung dessen, was die Kirche in den Jahrhunderten davor geglaubt und gelehrt hat. Aber das entspricht in manchem schlichtweg nicht den historischen Tatsachen. Denn in der Tat hat das letzte Konzil eine Reihe von Entscheidungen getroffen, durch die frühere Lehrentscheidungen korrigiert werden.

Die Kirche muss manchmal auch Brüche (Abbrüche, Umbrüche und Neuaufbrüche) in Kauf nehmen, um sich und ihrer Sendung treu zu bleiben. Kirche ist kein Verein zur Brauchtumspflege, sondern eine „Ecclesia semper reformanda“, die stets nach einer Form und Gestalt suchen muss, die den Menschen hier und heute hilft, mit dem lebendigen Gott in Berührung zu kommen – auch wenn das manchmal bedeutet, mit liebgewonnenen Traditionen zu brechen.

Und schließlich ein Drittes: Bewusst spricht Paulus von dem einen Schatz (im Singular!) und den vielen zerbrechlichen Gefäßen (im Plural!). Das Geheimnis Christi ist so groß und reich, dass es sich nicht in einer Tradition alleine einfangen und darstellen lässt. Wer meint, den Reichtum Christi könne man in einer einzigen Tradition bewahren, der macht Gott kleiner als er ist.

Wer die Erkenntnisse der Bibelwissenschaftler und der Kirchenhistoriker ernst nimmt, muss anerkennen: Kirche gab es von Anfang an sowohl im Singular als auch im Plural. Nach diesem Beispiel der alten Kirche darf, ja muss es auch heute vielfältige Ausdrucksformen des Glaubens geben. In jede Sprache, in jede Kultur soll und muss sich der Glaube je neu verleiblichen, um für die Menschen in ihrem jeweiligen Kontext lebensrelevant zu sein. Was hier in Deutschland, in Mitteleuropa sinnvoll ist, um den Glauben zu leben und weiterzugeben, muss es nicht in Südamerika sein, in Afrika oder in Asien.

Auch in der Ökumene spielten und spielen Traditionen eine große Rolle. Sich auseinanderentwickelnde Traditionen hatten wesentlichen Anteil daran, dass an Knotenpunkten der Kirchengeschichte die kirchliche Einheit zerbrochen ist. Und nach den Spaltungen wurden die unterschiedlichen Traditionen umso stärker betont. Sie dienten der Abgrenzung vom anderen, dem Erweis der eigenen Rechtgläubigkeit und als identitätsstiftende Wesensmerkmale: Hier die Kirche, die ganz aus der Bibel lebt, das allgemeine Priestertum hochhält und den Laienkelch allen reicht. Dort die Kirche, in der der Papst über allem thront, die apostolische Sukzession die Ursprungstreue garantiert und die Realpräsenz Christi in der Eucharistie im Zentrum steht. Allzu lange haben wir unsere ganze Energie darauf verschwendet, dem anderen nachzuweisen, dass seine Art, Kirche zu sein, falsch ist.

Diese leidvolle Geschichte des Neben- und Gegeneinanders macht es uns heute so schwer, im anderen eine legitime Gestaltwerdung der Kirche Jesu Christi zu erkennen und so zur sichtbaren Einheit zu finden. Dabei kann uns das, was wir vorhin über Traditionen als zerbrechliche Gefäße bedacht haben, helfen, auch in der Ökumene weiter voranzukommen. Auch hier gilt es, zwischen dem göttlichen, lebendigen Schatz und den immer wieder von Erstarrung und Selbstsakralisierung bedrohten Gefäßen zu unterscheiden. Entscheidend für das ökumenische Miteinander ist, dass wir unsere Identität nicht in erster Linie in unseren konfessionellen Traditionen suchen, sondern im gemeinsamen Blick auf Jesus Christus. Je mehr wir uns dem Wirken seines Geistes hier und heute öffnen; je mehr wir im anderen nicht das sehen, was er nicht ist oder was ihm fehlt, sondern einen Träger desselben göttlichen Schatzes – umso eher werden wir Kirchen nach seinem Willen.

Auch in der Ökumene gilt es, damit zu rechnen, dass es zu Traditionsbrüchen kommen kann. Viele scheuen ja ökumenische Begegnungen, weil sie Angst haben, dabei etwas aufgeben zu müssen, was ihnen in ihrer Kirche lieb und teuer ist. Ökumene ist aber – wie Kardinal Kasper einmal betont hat – kein Verarmungsprozess und kein Verlustgeschäft, noch weniger ist sie ein Ausverkauf. Im Gegenteil: Wenn ich mich offen und selbstkritisch auf den ökumenischen Partner einlasse – dann wird Ökumene zu einem geistlichen Gewinn, zu einem Prozess der gegenseitigen Bereicherung.

Vor allem in der Ökumene gilt es, die Vielfalt der Gefäße nicht als Hindernis auf dem Weg zur Einheit, sondern als Chance zu begreifen. Als Chance, Menschen unterschiedliche theologische, geistliche, liturgische und künstlerische Zugänge zum Geheimnis Gottes zu eröffnen. Dazu braucht es allerdings ein Umdenken in den Köpfen: So lange wir als Kirchen all unser Mühen darauf setzen, unsere eigenen Gemeindemitglieder bei der Stange zu halten und möglichst neue Kirchensteuerzahler zu rekrutieren – so lange kreisen wir nur um uns selbst, um die Bewahrung der Institution Kirche und um den Erhalt unserer gesellschaftlichen Relevanz. Doch nur wenn wir sichtbar und versöhnt eins sind, können wir auch in die Welt hinein einheitsstiftend wirken. Deshalb kann die Zukunft der Kirche nur ökumenisch sein.

Dr. Thomas Stubenrauch ist Referent für Ökumene und Theologische Grundsatzfragen im Bistum Speyer. Den hier in Auszügen abgedruckten Vortrag hielt er am 26. September in der Reihe „Ökumenische Impulse“ in Landau.

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