Die Dokumentation: Keiner lebt für sich allein

Demokratie ist die Haltung der Achtung und Hochachtung der Menschen voreinander • von Heiner Koch

Wir miteinander: Der Berliner Erzbischof Heiner Koch eröffnet den Gottesdienst in der Propsteikirche St. Peter und Paul. Foto: epd

Die ganze Gemeinde der Israeliten brach von Elim auf und kam in die Wüste Sin, die zwischen Elim und Sinai liegt. Es war der 15. Tag des zweiten Monats nach dem Auszug aus Ägypten. Die ganze Gemeinde der Israeliten murrte in der Wüste gegen Mose und Aaron. Die Israeliten sagten zu ihnen: Wären wir doch in Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und Brot genug zu essen hatten. Ihr habt uns nur deshalb in diese Wüste geführt, um alle, die hier versammelt sind, an Hunger sterben zu lassen“ (Exodus 16, 1–3).

Potsdam ist wirklich eine facettenreiche Hauptstadt Brandenburgs. Hier erfahren die Menschen Tag für Tag, was das Leitwort des diesjährigen Tags der Deutschen Einheit bedeutet: „Wir miteinander“. Keiner lebt für sich allein. Wir stützen einander, wir streiten miteinander, wir korrigieren einander. Auch wenn wir vielleicht nicht immer danach handeln, so wissen wir doch im Grunde: Leben geht nur miteinander.

Das klingt gut, das ist oft entlastend, manchmal tröstend, aber es ist oft auch sehr schwierig. Wo viele Menschen zusammenleben, erleben sie auch, dass es anstrengend ist, miteinander auf dem Weg zu sein. Unterschiedliche Ansichten, Erfahrungen, unterschiedliche politische Überzeugungen, unterschiedliche weltanschauliche religiöse Haltungen. Gerade in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruchsituation mit ihren vielen Unsicherheiten treten diese Unterschiede mitunter schärfer zutage und führen schneller zu Konflikten.

Das ist mitunter eine große Herausforderung, auch für diejenigen, die sich selbst als tolerant bezeichnen würden. Da ziehen sich gerade in einer pluralen Gesellschaft viele Menschen schnell in ihre getrennten Lebensbereiche zurück, in den Kreis der Gleichgesinnten, der gleichen Überzeugungen und Perspektiven. Das Leben in der viel zitierten „Blase“.

Eine Weiterentwicklung, ein Fortschritt im Denken, Handeln und Erkennen kann in solch einem Biotop kaum noch gelingen. Wenn man sich nur noch in der Blase gegenseitig bestätigt: „Wir miteinander“ – dann ist das schwierig. Und wenn das „Wir miteinander“ zum „Wir gegen die“ kippt, wenn Menschen einer anderen Gesinnung oder Gruppe nur noch skeptisch wahrgenommen, womöglich sogar angefeindet werden – dann wird es gefährlich. Das ist ein Einfallstor für Extremismus.

Da vergaß das von Gott „auserwählte Volk“ sogar seinen Gott. Jenen Gott, der doch gerade ein Gott des Miteinanders und des Füreinanders ist, der die Menschen in Freiheit zu führen versprochen hat, der mit den Menschen geht, mit ihnen leidet, miteinander im Glück, miteinander in Bedrohung, ja sogar miteinander im Tod. Plötzlich war man gegeneinander. Das Volk Israel in der Wüste brach damals voller Begeisterung auf. Doch als seine Erwartungen nicht erfüllt wurden, als die Schwierigkeiten in den langen Jahren der Wüstenwanderung auftraten, als Ungewissheit und Enttäuschung sich breitmachten, da „murrten“ die Israeliten, da wuchsen mitten unter ihnen Anfeindungen, Feindschaften, Populismus, ja sogar schroffe Ablehnung.

Israel hat 40 Jahre lang lernen müssen, als Volk miteinander durch die Wüste zu gehen, beieinander und bei Gott zu bleiben, 40 lange Jahre bis zur Ankunft im Gelobten Land. Es war eine schwierige Lernerfahrung Israels – aber sie kann uns ein lehrreiches Beispiel sein für die gegenwärtigen Herausforderungen in unserer Gesellschaft und unserer Kirche.

Die katholische Kirche ist dem heiligen Petrus und dem heiligen Paulus gewidmet. Diese beiden Apostel stehen in der Kirche auch für Gegensätze und Auseinandersetzungen. Diese beiden so unterschiedlichen Typen mussten lernen, einander zu verstehen, zu akzeptieren und beieinander zu bleiben, nicht nur die beiden selbst, sondern auch ihre Anhänger. „Wir miteinander“, das müssen auch Christen immer wieder neu lernen. Wir miteinander: in der Vielfalt und in den Krisen, in guten und in schwierigen Zeiten.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte ist das Gegeneinander unterschiedlicher Ansichten und Auffassungen immer wieder unheilvoll eskaliert und explodiert, manchmal in schlimmsten Ausführungen, die viele Menschenleben gekostet haben. Mauern wurden hochgezogen, Menschenrechte mit Füßen getreten, Ausgrenzung, Terrorismus und Rassismus brachen sich Bahn. Jeder Respekt und jede Hochachtung voreinander brachen zusammen. Von wegen: „wir miteinander“. Man suchte die Uniformität; Einheitlichkeit statt Einheit. Auf diese Weise wurde die Menschheitsfamilie in ihrer Geschichte schon oft gespalten, statt geeint.

Es ist oft nicht leicht, Differenzen auszuhalten und miteinander auf dem Weg zu bleiben. Es setzt so viel an Respekt und Achtung für den anderen voraus, an persönlicher Demut und Bescheidenheit, an Wissen darum, dass auch der und die andere ihr Wissen und Erkennen, ihre Überzeugung und ihre Erfahrung hat und darin auch ihren hohen Wert auch für mein und unser Leben. Dass wir nur miteinander „reich“ sind und dass wir deshalb miteinander ein Leben lang zu lernen haben, um zu leben und unser Leben zu entfalten, um miteinander Mensch zu sein.

Vor aller Staatsform ist Demokratie vor allem und grundlegend eine Haltung der Achtung und Hochachtung der Menschen voreinander. Demokratie ist die Vereinbarung, einander zuhören und verstehen zu wollen und die Entscheidungen, die dann nach rechtsstaatlichen Regeln getroffen werden, zu respektieren und zu akzeptieren. Demokratie ist ein Weg, Demokratie ist ein Lernprozess. Das wissen wir aus unserer Geschichte, nicht nur derjenigen der vergangenen 30 Jahre seit der Wiedervereinigung Deutschlands.

Da geht es eben, das haben wir in Corona-Zeiten ganz neu lernen müssen, nicht nur um die eigene Freiheit, sondern auch um die Freiheit der anderen Menschen. Da geht es nicht nur um den eigenen Lebensschutz und die eigene Gesundheit, sondern untrennbar auch um das Leben des anderen, den ich durch mein Verhalten schützen oder gefährden kann. Da geht es nicht nur um die eigene Empfindung und die eigenen Emotionen, sondern genauso um die Wahrnehmung und das Lebensgefühl der anderen. Es geht auch um Erkenntnisse, die wir akzeptieren müssen, auch wenn diese uns ein unangenehmes Gefühl bereiten. Und es geht auch um das Miteinander im Nichtwissen, aus dem Vorsichtsmaßnahmen erwachsen.

Auch wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung ohne jeden Zweifel die beste ist, die Deutschland in seiner Geschichte je hatte, so ist doch diese Demokratie kein Selbstläufer. Schnell können die Menschen ihre Demokratie verkommen lassen und die Lebensformen der Demokratie verschleudern. Viel zu regelmäßig bestimmen inzwischen entsprechende Vorfälle unsere Nachrichten. Sie führen uns vor Augen: Unsere Gesellschaft muss wieder stärker für ihre Demokratie eintreten und Anfeindungen konsequent entgegentreten.

Demokratie ist mehr als ein Recht auf Stimme und Abstimmung. Demokratie bedeutet: miteinander sehen, was ist. Was ansteht. Miteinander erkennen, was der nächste Schritt ist. Miteinander umsetzen, was demokratisch beschlossen ist, nachdem miteinander geredet und die Argumente abgewogen wurden. Zur Demokratie gehört auch, Minderheiten ernst zu nehmen und Brücken zu ihnen zu bauen, damit sie nicht aus dem Miteinander herausfallen oder sich selbst entfernen.

Demokratie ist eine Haltung. Das haben wir in Deutschland erst sehr leidvoll lernen müssen und müssen es mutig weiterlernen: wir miteinander. Und wir mit Gottes Hilfe, um die wir heute Morgen beten.

Heiner Koch ist Erzbischof des Erzbistums Berlin. Die Eingangsrede beim ökumenischen Gottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit hielt er am 3. Oktober 2020 in der Propsteikirche St. Peter und Paul in Potsdam.

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