Die Dokumentation: Die Schöpfung wird heil und neu

Durch den Tod hindurch wird das gelebte Leben in ewige Lebendigkeit verwandelt • von Christian Schad

Warten auf das Jüngste Gericht: Nach dem Tod verschwimmt die Länge der Zeit. Foto: epd

Der Tod, obwohl das Gesetz, das unwiderruflich unser Leben bestimmt, ist doch zugleich die Niederlage des Lebens. Der Tod ist stumm und macht stumm. Er ist die Verneinung des Lebens. Er bricht von außen in das Leben ein, unausweichlich in der Todesstunde selbst – und treibt doch zugleich sein Werk der Zerstörung bereits mitten im Leben. Deswegen eignet ihm immer auch das Moment des Abbruchs. Und dies gilt keineswegs nur vom gewaltsamen Tod und dem Tod zur Unzeit, sondern für jede Gestalt des Tods.

Menschliches Leben ist wesensmäßig fragmentarisch, weil selbst dann, wenn ein Mensch nach einem langen und erfüllten Leben stirbt, Möglichkeiten ungenutzt und Schuld ungesühnt geblieben sind. Jedes Leben, ob kurz oder lang, ist nicht nur möglicherweise reich an Erfahrungen des Gelingens, sondern auch an solchen des Scheiterns und des Verlusts. Insofern vollendet der Tod nicht das unvollständig gebliebene Leben, sondern verendgültigt dessen Unvollkommenheit. „Aber gerade das Fragment“, sagt Bonhoeffer, „kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen.“ Und er meint damit die Hoffnung auf ewiges Leben, die ihren Grund hat in der Auferweckung Jesu von den Toten. Von ihr her, so Bonhoeffer, „kann ein neuer reinigender Wind in die gegenwärtige Welt wehen“.

Jesus hat sich selbst in seinem ganzen Leben und zuletzt im Sterben am Kreuz preisgegeben – auf das Kommen Gottes hin. Er selbst wollte nichts sein, weil Gott ihm alles war. So ist die Liebe Gottes, die er verkündigt und in die hinein er gestorben ist, die Kraft der Beziehung, die dem Tod standhielt und ihn neu ins Leben rief. Sie ist der Grund, auf den hin auch wir leben und sterben. Denn Jesu österliches, ewiges Zusammensein mit Gott will nicht exklusiv, sondern inklusiv verstanden sein. Darum wird Jesus Christus im Neuen Testament als „Erstling der Entschlafenen“ bezeichnet (1. Korinther 15, 20). Wie er, soll die gesamte Schöpfung in das ewige Leben Gottes hineingenommen werden. Letztlich ist der Auferstehungsglaube nichts anderes als die Konsequenz des christlichen Gottesglaubens, demzufolge Gott seinem Wesen nach Liebe ist. Der existenzielle Sinn dieses Glaubens besteht in der Gewissheit, dass uns, wie Paulus schreibt, nichts – weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges – von der Liebe Gottes trennen kann, nicht einmal der Tod (Römer 8, 38f.).

Durch den Tod, durch das definitive Ende unserer irdisch-geschichtlichen Existenzform hindurch werden wir, wird unser gelebtes Leben verwandelt (1. Korinther 15, 51f.). Damit ist keine Transformation in ein anderes Wesen gemeint. Vielmehr die Verwandlung unseres zeitlichen Lebens in ewige Lebendigkeit. Unser gelebtes Leben verschwindet nicht, sondern wird zurechtgebracht, versöhnt, geheiligt, verherrlicht. Es bleibt unverwechselbar unser Leben, so wie wir selbst darin bleiben – aber erst verwandelt werden wir ganz zu uns selber kommen. Unsere individuelle Identität wird dabei nämlich neu geformt, geformt zu der Gestalt, wie Gott einen jeden und eine jede von uns gemeint hat. Nichts geht verloren. Unsere verworrene Lebensgeschichte und mit uns die gesamte Schöpfung werden heil und neu, weil mit Licht erfüllt, das alles Dunkle und Finstere vertreibt.

Wann dies geschieht? Im Neuen Testament scheint es darüber unterschiedliche Auskünfte zu geben. Im 1. Thessalonicherbrief (4, 13–18) geht Paulus von der Vorstellung aus, dass die Toten so lange schlafen, bis der Jüngste Tag anbricht und die Weltzeit zu Ende geht. Das Lukasevangelium kennt eine solche Zwischenzeit nicht. So sagt Jesus zu dem neben ihm am Kreuz sterbenden Verbrecher: „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lukas 23, 43). Martin Luther bringt beide, sich scheinbar widersprechende Vorstellungen zusammen, indem er an unsere Erfahrung appelliert: Wer in der Nacht plötzlich aufwacht, weiß nicht, ob er Sekunden oder Stunden geschlafen hat. Die Länge der Zeit verschwimmt. So, sagt Luther, ist es auch mit dem Leben nach dem Tod. Wenn die Toten am Jüngsten Tag von Christus auferweckt werden, wissen sie nicht, wie lange sie geschlafen haben: „Sobald die Augen sich schließen, wirst du auferweckt werden. 1000 Jahre werden sein, als wenn du ein halbes Stündlein geschlafen hast. Gleichwie wir, wenn wir nachts den Stundenschlag hören, nicht wissen, wie lange Zeit wir geschlafen haben, so sind doch vielmehr im Tod 1000 Jahre schnell weg. Ehe sich einer umsieht, ist er schon ein schöner Engel.“

Als Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg zur Hinrichtung abgeholt wurde, verabschiedete er sich von seinem Mitgefangenen mit den Worten: „Das ist das Ende, für mich der Anfang des ewigen Lebens.“ Unsere Todesstunde ist unsere Auferweckungsstunde. Wenn wir sterben, erwachen wir zum ewigen Leben. Die chronologische Zeit hat hier ausgedient. Das Sterben geht über in ein Erwachen. Und da leuchtet uns der „Morgenglanz der Ewigkeit“ entgegen. Alles, sagt Luther an anderer Stelle, ist ein „ewiger Augenblick“, erfüllte Gegenwart: Ich selbst mit meinem gelebten Leben finde mich vor im Angesicht von Gottes verzeihender Liebe. So werden wir alle „offenbar … vor dem Richterstuhl Christi“, schreibt Paulus (2. Korinther 5, 10). Und er versteht das Jüngste Gericht als Sinnbild der Hoffnung – und nicht der Angst!

Würde unser individuelles Leben und die Welt im Ganzen nämlich keinem letzten göttlichen Urteil entgegengehen, dann wäre die Weltgeschichte selber das Weltgericht. Und das hieße, dass am Ende die Mörder über ihre Opfer, die weltgeschichtlich Siegreichen über die von ihnen Unterdrückten triumphieren würden. Das Ausbleiben eines Jüngsten Gerichtes wäre mithin der schreckliche Ausdruck göttlicher Gleichgültigkeit. Nichts aber würde den von ihm geschaffenen Menschen tiefer erniedrigen als dies: Gott gleichgültig zu sein.

Dass Gott sich unserem gelebten Leben richtend, also aufrichtend und zurechtbringend, noch einmal zuwendet, zeigt, dass wir ihm nicht gleichgültig sind. Vielmehr werden wir zum Gericht erhöht. Deshalb kommt alles darauf an, dass das Jüngste Gericht nicht als ein dunkle Schatten in die Gegenwart werfendes Ereignis beschworen, sondern als ein Licht verheißendes Ereignis verkündigt und erwartet wird. Das Gericht soll zutage bringen, was geschehen ist, was wir in dieser Welt getan und unterlassen haben. Alles, was in meinem Leben Gott widersprochen hat, sagt Paulus, wird verbrannt – und alles, was ihm entsprochen hat, wird bewahrt. Ich selbst aber – als die von meinen Taten und Untaten zu unterscheidende Person – werde gerettet werden (vergleiche 1. Korinther 3, 11–15).

„Ich denke mir“, schreibt Jörg Zink, „dass ich da viel werde nacherleiden müssen, nachleben, viel betrauern, was versäumt wurde, dass ich aber daran nicht zugrunde gehen werde, weil mich die Güte Gottes festhalten wird. Dass ich da werde eine Wandlung erleiden müssen in den, der ich eigentlich zu sein bestimmt war, bis endlich jene Übereinstimmung mit dem Wesen und dem Willen Gottes erreicht ist und jene Vergebung geschehen, die ausgesprochen sein muss, ehe das Dasein die Kraft und die Fülle erlangen kann, die ihm eigentlich zugedacht war. Bis jene Gestalt, jenes große Gegenüber Gott sagt: Es ist gut. Es ist alles gut.“

Was sich hier vollzieht, ist die Vollendung der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade; die Menschen für immer rettende – und von aller Selbstrechtfertigung, aber auch von aller Selbstverurteilung befreiende Erlösung. Keiner ist verloren. Unsere Namen sind einzeln vor und bei Gott gegenwärtig (Lukas 10, 20b). Alle werden wir uns deshalb wiedersehen, wie auch immer diese neue Begegnung in der Ewigkeit aussehen mag. Denn jede und jeder wird am Ende ins Licht der Liebe Gottes gestellt und angesehen von seinem gnädigen Blick. Der Grund dieser Hoffnung, er liegt in den schon jetzt ausgebreiteten Armen des gekreuzigten und auferstandenen Christus, mit denen er uns empfängt. Er – und kein anderer – ist Richter. Kommt uns mit seinem Verheißungswort entgegen, um so uns sterblichen Menschen – wie schon jetzt und dann erst recht – teilzugeben an seinem eigenen, ewigreichen Leben und an seinem durch und durch lebendigen Frieden.

Dass „Gott abwischen wird alle Tränen … und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz“ (Offenbarung 21, 3f.), vielmehr er, Gott, „alles in allem“ ist (1. Korinther 15, 28) und keiner der Lebenden und Toten verloren geht, das ist Ausdruck einer letzten Zuversicht, der – wie alle Sätze christlicher Hoffnung – den Charakter des Gebets besitzt; nämlich der Bitte, die die göttliche Zusage ewigen Lebens beim Wort nimmt und ihr unbedingt vertraut. Dass im Ende der Anfang, im Tod das Leben in der kommenden Welt auf uns wartet, darauf antworten wir darum sinngemäß mit Luthers Vaterunser-Lied: „Amen, das ist: Es werde wahr“ (EG 344, 9).

Dr. h.c. Christian Schad ist Präsident der Evangelischen Kirche der Pfalz.

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