Die Dokumentation: Die Mutter aller Moscheen

Eine kulturhistorische Betrachtung der Hagia Sophia mit Blick auf Koran und Bibel • von Stefan Pohlit

Umschreibt das Göttliche: Lichtvers aus Sure 24 in der Kuppel der Moschee. Foto: Pohlit

Seit dem 24. Juli 2020 ist die Hagia Sophia wieder Moschee. „Mehmed der Eroberer hat sie den Gläubigen bis zum Jüngsten Tag anvertraut“, erklärte Ali Erbas, Direktor für Religiöse Angelegenheiten in seiner Predigt beim ersten Freitagsgebet. Islam bedeute „Frieden, Errettung, Heil“ – eine Garantie, welcher der Säbel in seiner Hand eine gewisse Zweideutigkeit verleiht. Dann kam die Abrechnung mit Atatürk: „Wer die Bedingungen der Weihe zerschlägt, wird verflucht!“ Der Präsident kniete vorne, wie alle Besucher am Boden und Corona-bedingt maskiert. Die Inszenierung wird ihn noch lange stützen.

Die Einwände aus dem Ausland bis hin zu einzelnen türkischen Stimmen sind bekannt, die Opposition hat die Einladung abgelehnt. Die Historikerin Cigdem Kafescioglu erinnert daran, dass man die Hagia Sophia lange vor 1934 als Museum auffasste. Von jener „Sehnsucht“, auf die sich Erbas beruft, war damals keine Rede. Wer sie aber heute missachtet, übersieht den Doppelstandard westlicher Politik.

Schon der Name der Hagia Sophia hat ein Gewicht, das die AKP seit einigen Jahren dazu motiviert, auch andere „Ayasofya-Kirchen“, so in Trabzon und Iznik, als Moscheen auszustatten. Rein bautechnisch hat sich ab der Istanbuler Fatih-Moschee (1470) die osmanische Sakralarchitektur aus deren Vorbild entwickelt. Der Vergleich mit dem Salomonischen Tempel, den die Überlieferung Justinian I. zuschreibt, kann diesen Blickwinkel bestärken, denn der Koran huldigt Muhammad als „Siegel“ jüdischer ebenso wie christlicher Propheten. Eine Legende besagt, seine Geburt habe das Erdbeben ausgelöst, das die erste Kuppel zum Einsturz brachte.

Mehmed II. war ein genialer Stratege, der die Christen Konstantinopels unter Schutz stellte und in seine Verwaltung aufnahm. Indem er die Hagia Sophia nach 1453 nicht umbenannte und bis auf ein Minarett in ihrer Form beibehielt, sollte ihr Anblick die Erinnerung an den Sieg bewahren. Mit lediglich 21 Jahren trat er als Kayser-i Rum die Nachfolge der Caesaren an, während die Nichte Konstantins XI., Sofia Palaiologa, durch Heirat in Moskau die Theorie des „Dritten Roms” begründete.

Der Westen hatte Byzanz längst aufgegeben, ja, seinen Fall durch den Vierten Kreuzzug mitverschuldet. Im 20. Jahrhundert beförderte das Ausland die Unterwanderung der laizistischen Türkei, um einer Annäherung an die Sowjetunion vorzubeugen. Während über 100000 Griechen unter Repression aus dem Land flohen, entzündete sich die junge Rechte mit Slogans wie: „Die Ketten sollen zerreißen, die Ayasofya geöffnet werden.“ Mit dieser Forderung soll sich 1950 der religiöse Führer Said Nursi an Ministerpräsident Adnan Menderes gewendet haben. Nursis Schüler Abdullah Yegin hat sich noch kurz vor dem Tod 2016 zu der Prophezeiung bekannt, dass die Öffnung der Hagia Sophia als Moschee dem Land zu neuem Wohlstand verhelfen werde.

Die Bedeutungsebenen der Hagia Sophia, zu Deutsch „Heilige Weisheit“, enthüllen die Unterschiede zwischen Islam und Christentum. Den Glauben Konstantins I. rechnete Historiker Edward Gibbon noch dem „Genie der Sonne“, dem Apollon der Griechen zu – etwa im Sinne der drei persischen Magoi, die im Jesuskind ihren Zarathustra erkennen. So ließ sich der Gründer des „Neuen Roms“ zur Einweihung 330 in Gestalt des Helios verewigen.

Den heidnischen Synkretismus sollte erst Theodosius I. besiegeln. Nicht unähnlich muslimischen Einwanderern unserer Zeit sahen sich Christen bis dahin der Gefahr ausgesetzt, zugunsten staatlicher „Dämonen“ zu sündigen. An die Stelle des antiken Körperkults traten Mosaiken, die den Blick aus der Welt hinaus dem Geist zulenken. In ihrer Schwerelosigkeit schrumpfte der Augustus zum Statthalter vor dem Sitz der Weisheit (sedes sapientiae), in dessen Mitte die Gottesmutter mit dem Kind thront. In Gedanken an den bevorstehenden Bilderstreit des Frühmittelalters scheint die islamische Abstraktion von hier aus nicht weit weg.

Der Marienkult ist an die Sophia angelehnt, doch in der Gnosis versinnbildlicht sie nicht die Empfängnis der Mutter, sondern den Logos als geistiges und damit „unbeflecktes“ Wesen des Christus beziehungsweise der Seelennatur des Menschen. Gegenüber dieser Zeugung aus dem „wahren Licht, das alle Menschen erleuchtet“ (Johannes 1, 9), führt der Koran den Menschen auf einen Tropfen Samen (nutfah) und einen Klumpen Staub (turab) beziehungsweise Lehm (tin) zurück.

Die Schwelle zwischen Dies- (dunya) und Jenseits (ahirah) bleibt undurchdringlich. So beschreibt der Lichtvers in Sure 24, der heute von der Kuppel der Hagia Sophia schimmert, das Göttliche als eine „Nische, in der eine Lampe ist“. Während der Apokalyptiker das „Buch“ aus der Hand des Engels aufisst (Offenbarung 10, 10), muss es Muhammad gleichsam „ausschwitzen“, indem er es in eine unantastbare Botschaft zurückverwandelt. Damit gleicht die Sophia am ehesten dem 51. der schönsten Namen Allahs: haqq, Wahrheit.

Berühmt ist die Legende des Mansur al-Hallag, der 922 als Ketzer gekreuzigt wurde. Sein Ausspruch, al-haqq zu sein, scheint gleichbedeutend mit sirk, der „Beigesellung“ anderer Götter neben Allah. Was er wirklich meint, ist, dass al-Hallag im Sinne der Prophetentradition „gestorben“ war, bevor er starb. Die Art, wie diese Ekstase „mit dem Blut des Liebenden bezahlt“ wird, so einst die Islam-Wissenschaftlerin Annemarie Schimmel, rückt das Erlebnis des Tawhid (der Einheit Gottes) in die Nähe der Astralwelt, deren Leidenschaften den Körper zu zerstören trachten.

Nicht unerwähnt bleiben soll der Begriff der „Jungfrau Sophia“ als „geläuterter astralischer Leib“. Gemäß einer Schulung, die Rudolf Steiner aus dem Johannes-Evangelium (1, 32) ableitet, neigt sich der Geist dem Initiierten in Form einer Taube zu. Solche Katharsis kennt der Sufismus mit dem Unterschied, dass die Seele als Hindernis zwischen dem Liebenden und Allah ausgelöscht werden muss. Beinahe christlich wiederum interpretiert der Philosoph Metin Bobaroglu den Monotheismus anhand der Sure 114 im Sinne von Individualität, die Allah durch jeweils andere Augen in die Welt ausgießt.

Wem hätte Salomo die Hagia Sophia zugesprochen? Im Vorfeld sorgten die Äußerungen des Schriftstellers Ebubekir Sofuoglu aus Sakarya für Empörung: Kaiserin Zoë Porphyrogenita sei eine „Hure” gewesen und ein Bild von ihr im Gebetshaus untragbar. Ali Erbas versicherte, dass die Mosaiken geschützt bleiben. Mehmed II. selbst hatte einst die Muttergottes direkt über der Gebetsnische sichtbar gelassen. Dagegen lassen sich die Ikonen der Istanbuler Chora-Kirche, die dasselbe Schicksal wie die Hagia Sophia ereilt hat, kaum mit Stellwänden verhüllen.

Während in der Ägäis ein von der Türkei provozierter Krieg droht, befürchten Kritiker einen weiteren Schritt in Richtung Scharia – den „Tayiban-Staat“ mit den Worten Ahmet Nesins, Sohn des berühmten Schriftstellers Aziz Nesin. Der kurdische Politiker Hatip Dicle indes verweist auf die Symbolkraft der Eckdaten 2023 und 2053, die die AKP seit Jahren in ihrer Agenda führt. So sei es denkbar, dass Erdogan Istanbul bald zur Hauptstadt ausruft.

Stefan Pohlit lebte mehr als zehn Jahre in der Türkei. Seit 1999 widmet sich der Komponist und Musiktheoretiker orientalistischen Studien, zwei Jahre unterrichtete er als Juniorprofessor am Staatlichen Konservatorium für Türkische Musik der TU Istanbul. 2018 gewann Pohlit in der Türkei einen Prozess gegen die Universität wegen seiner unrechtmäßigen Entlassung.

Einst christliche Hauptkirche

Die Hagia Sophia wurde als „Kirche der göttlichen Weisheit“ im Jahr 537 geweiht und war fast ein Jahrtausend lang die christliche Hauptkirche Konstantinopels. Die spätantike Kuppelbasilika war somit die Hauptkirche des byzantinischen Reichs und Zentrum der orthodoxen Ostkirche.

Die Kuppel wurde 562 neu gebaut und ist bis heute erhalten. Die Hagia Sophia war der Höhepunkt der christlichen Architektur der frühbyzantinischen Kunst und erreichte bis dahin unbekannte Dimensionen. Nach der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen wurde die Hagia Sophia zur Hauptmoschee. Auf Anregung des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk wurde die Moschee 1935 in ein Museum umgewandelt. Dieser Beschluss wurde am 10. Juli 2020 mit einem Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts der Türkei annulliert. Am 24. Juli fand dort erstmals wieder ein muslimisches Freitagsgebet statt. Kritik an der Umwandlung in eine Moschee äußerten unter anderem EKD und Weltkirchenrat. epd

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