Die Dokumentation: Die Apokalypse als Trostbuch

Angemessene Exegese kann der Offenbarung des Johannes ihren Schrecken nehmen • von Otto Böcher

Illustration der Offenbarung: Die „Babylonische Hure“ aus der Cranach-Bibel. Foto: epd

Die Offenbarung beziehungsweise Apokalypse des Johannes ist das einzige prophetische Buch des neutestamentlichen Kanons. Entstanden um 95 nach Christus enthält es die wichtigsten Elemente der christlichen Eschatologie: Weltende, Tausendjähriges Zwischenreich, Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht mit Urteil nach den Werken, Hölle und Himmel, himmlisches beziehungsweise neues, ewiges Jerusalem. Freilich entsprechen Kenntnis und Auslegung der Johannes-Offenbarung in Predigt und Unterricht heute längst nicht mehr der theologischen Bedeutung dieses Buchs. Das war nicht immer so. Vor 1800 war die Apokalypse des Johannes das am meisten gelesene und am ausführlichsten illustrierte Buch der Bibel.

Wie die altjüdischen Apokalypsen, an die sich die neutestamentliche Johannes-Offenbarung nach Form und Inhalt anschließt, verbindet auch diese Schrift gegenwartsbezogene Mahnungen und Weisungen mit dem Ausblick auf künftiges Heil. Zwischen der von den Sieben Sendschreiben kritisch beurteilten und ermahnten kirchlichen Gegenwart und dem ewigen Heil sind zahlreiche Katastrophen zu bestehen, die schon in der christlichen Spätantike und noch im 17. Jahrhundert die Leser ängstigten und noch heute in einer Art theologischer Subkultur manche Fromme dazu verführen, Naturereignisse, Kriege und widergöttliche Gestalten wie Napoleon, Stalin oder Hitler mit eigenen Erfahrungen gleichzusetzen oder den Weltuntergang zu errechnen.

Die Willkürlichkeit solcher „Exegese“ hat seit der Aufklärung die Johannes-Offenbarung den wissenschaftlichen Theologen entfremdet; noch vor wenigen Jahrzehnten haben kritische Exegeten vorgeschlagen, dieses Buch aus dem Kanon zu entfernen, da die Lektüre der Bibel nicht Angst, sondern Trost und Freude zu vermitteln habe. So hat die Apokalypse des Johannes ihre Hochschätzung weitgehend eingebüßt.

Dagegen wirken die aus der Apokalypse herausgelesenen Ängste weiter: der Chiliasmus mit der Furcht vor dem Jahr 2000 als dem Beginn (oder Ende) des Tausendjährigen Reichs, die Angst vor der vermeintlichen Zauberzahl 666, die Höllenfurcht oder die Vorstellung, Krankheitsdämonen mit den zwölf zauberkräftigen Edelsteinen vertreiben zu können. Noch immer bezeugen allerhand Redewendungen der Umgangssprache den einstigen Bekanntheitsgrad der Johannes-Offenbarung: etwa „A und O“, „Buch mit sieben Siegeln“, „erste Liebe“, „Krone des Lebens“, „Schalen des Zorns“ oder „alte Schlange“.

Dass noch immer soziale Gruppierungen („Drittes Reich“, „1000-jähriges Reich“, „klassenlose Gesellschaft“) und manche Sekte (Jehovas Zeugen) sich bewusst oder unbewusst aus der Apokalypse herleiten, hat denselben Grund wie die vielerlei Ängste frommer Bibelleser: das Missverständnis der Johannes-Offenbarung als einer durchgängigen, auf die Zukunft von Welt und Kirche gerichteten Weissagung. Gerade das ist jedoch das letzte Buch des Kanons nicht: Es ist kein Schreckens-, sondern ein Trostbuch. Der Gebrauch des Adjektivs „apokalyptisch“ als Synonym für schrecklich oder furchtbar ist daher irreführend.

Die Probleme der Johannes-Offenbarung lassen sich nicht durch die Beseitigung dieser Schrift aus dem Kanon, sondern durch angemessene Exegese lösen. Was bei einer auf die Zukunft gerichteten Deutung der geschilderten Katastrophen (Erdbeben, Sonnenfinsternis, Hagel, Dürre, Ungeziefer oder Seuchen) zu spekulativen Ängsten führen kann, ist keine Ankündigung künftigen Unheils, sondern Rückblick auf Erlebtes oder Erzähltes, das die Leser mit vergangenen Ereignissen wie Kriegen, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüchen leicht identifizieren konnten. Man nennt solche fingierte Weissagung „Vaticinium ex eventu“, also „Weissagung nach dem Eintritt des scheinbar noch ausstehenden Ereignisses“.

Aus der Fehldeutung dieses biblischen Buchs als einer hellseherischen Vorhersage künftiger Ereignisse folgen die Ängste vor der Zahl 666 oder vor dem 1000. Jahr. Relativ harmlos, aber illegitim ist der Missbrauch der zwölf Edelsteine als eines – exorzistischen – Heilmittels. Verheerend ist jedoch, wenn bornierte Ideologen sich für Mord und Totschlag auf die Apokalypse des Johannes berufen, etwa die Fraticelli einer 1471 endgültig verurteilten radikalen Armutsbewegung des 14. und 15. Jahrhunderts, die Täufer von Münster (1534/1535), die Kämpfer für politische Utopien wie die „klassenlose Gesellschaft“ und das „Dritte Reich“ oder die Gründer mancher lebensbedrohender Sekten wie die des Satanismus.

Wichtiger als die skizzierten, missbräuchlichen oder zumindest illegitimen Rückgriffe auf die Apokalypse des Johannes ist allerdings der einzig legitime Zweig der Wirkungsgeschichte dieses Buchs: der christliche Kirchenbau. Wohl wissend, dass die Himmelsstadt als künftiges Heilsgut noch erwartet werden muss, haben kirchliche Bauherren und Architekten jahrhundertelang ihre Anregungen aus der Johannes-Offenbarung bezogen.

Für den Bau eines neuen Gotteshauses wählte man nach Möglichkeit die höchste Stelle des Ortsgrundrisses; nicht nur Kathedralen und bedeutende Stiftskirchen, sondern auch kleine Dorfkirchen wurden so zum Abbild des Zionsbergs mit dem Tempel. Grundsteine beschriftete man mit den Namen der Patriarchen und Apostel; wie die Himmelsstadt erhebt sich das Gotteshaus auf dem Fundament der Apostel.

Die in der Offenbarung erwähnten Edelsteine im Fundament des himmlischen Jerusalem werden gelegentlich als „Bauopfer“ im Mörtel des Kirchenfundaments versenkt. Vor allem aber erinnern an sie die bemalten Fenster und der Edelsteinschmuck der Vasa sacra. Entsprechungen der ebenfalls erwähnten Würfel sind die Elemente des „Gebundenen Systems“ der Romanik, aber auch ganze Kirchenräume. Zwölf Pfeiler repräsentieren die Apostel, und die Ostung des Kirchengebäudes verweist nicht nur auf Jerusalem, sondern auch auf Christus als den hellen Morgenstern der Offenbarung. Wer ein Kirchengebäude betrat, durfte sich als Besucher des himmlischen Jerusalem verstehen, wenn auch vorerst als eine symbolische Vorwegnahme des ewigen Heils. Auch das sogenannte Kirchenasyl hat hier seine Wurzel: Schon der gottesdienstliche Raum ist ein Stück Himmel auf Erden; im Himmel gibt es weder Frevler noch Polizei.

Wie in den Prophetenbüchern des Alten Testaments fehlt es auch in der Johannes-Apokalypse nicht an konkreten Mahnungen und Weisungen für Hörer und Lehrer. Der moderne Prediger, Lehrer und Seelsorger findet sie verstreut in allen 22 Kapiteln dieses Buchs, am dichtesten gedrängt in den Sieben Sendschreiben und in der Beschreibung der Himmelsstadt. Was der Visionär vom ewigen Jerusalem berichtet, ist stillschweigend auch als Ordnung des christlichen Gemeindelebens vorausgesetzt. Im Einzelnen handelt es sich zunächst um Trost und Treue in den Krisenzeiten, für die erste ­Christenverfolgungen, aber auch Kriege und Naturkatastrophen paradigmatisch sind; angesichts der überwundenen Katastrophen der sieben Siegel, sieben Posaunen und sieben Schalen ist für Angst kein Raum mehr, denn auch die Gegenwart wird überstrahlt von der Herrlichkeit der künftigen Gottesstadt.

Im Bild einer sicheren Burg verheißt die Offenbarung künftige Heilsgüter, die schon jetzt die Struktur des kirchlichen Lebens bestimmen. „Wasser des Lebens“ ist die allmonatlich empfangene Eucharistie. Bereits jetzt garantieren die altprophetischen Edelsteinfundamente der Kirche Festigkeit und ewigen Bestand. Harmonie – im Bild des Würfels – prägt eine Frömmigkeit des Friedens, fernab von Streit und Rechthaberei. An die Kirchenstrafe der Exkommunikation lässt der mehrfach betonte Ausschluss der Frevler und Häretiker denken. Die Fülle des Lichts lässt sich mit Kerzen und Ampeln im Gotteshaus realisieren, dessen Altar als Thron der Gottheit gilt. Zu den besiegten Größen werden Tod, Tränen, Trauer, Leid und Klagen gehören; schon jetzt übt sich der Christ im Trösten und im Lindern der Not, und der Leidende weiß, dass sein Schmerz nicht das letzte Wort behalten wird.

Und schließlich: Gold, Glas, Edelsteine und Perlen sind Symbole der Schönheit. Schön ist nicht nur die Gottesstadt der endzeitlichen Hoffnung mitsamt ihrer himmlischen Liturgie, sondern auch – in Architektur und Ausstattung – das irdische Kirchengebäude. Zum letzten Mal hat der Jugendstil gewagt, ausdrücklich für die Schönheit des Gotteshauses Sorge zu tragen, etwa im Falle der Wormser Lutherkirche (1912). Erst die Baugesinnung der Dialektischen Theologie hat Farben, Schmucksteine, Skulpturen und Vergoldungen des Kircheninneren für Kitsch erklärt und manchen künstlerischen Hinweis auf die Offenbarung des Johannes mit Absicht zerstört. Wir aber dürfen aus der Johannes-Apokalypse lernen, dass auch die Schönheit ein Heilsgut ist, nicht anders als Ruhe, Frieden, Gesundheit und die Gemeinschaft der Christen.

Professor Dr. Dr. Otto Böcher ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Universität Mainz. Den hier gekürzt abgedruckten Vortrag hielt er beim Treffen pfälzischer Pfarrerinnen und Pfarrer im August 2019 in Speyer.

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