Die Dokumentation: Begegnungen mit Fremden wagen

Drei gute Gründe für eine stärkere interkulturelle Öffnung der Kirchengemeinden • von Arne Dembek

Andere Frömmigkeitsformen: Die religiöse und kulturelle Vielfalt wächst. Foto: epd

Dass gesellschaftliche Paradigmenwechsel nicht spurlos an einer (Volks-)Kirche vorbeigehen, ist – zumindest mit Blick auf Demografie und Digitalisierung – fast überall angekommen, auch wenn die kirchlichen Antworten auf diese Entwicklungen nicht immer befriedigend ausfallen. Anders ist es im Hinblick auf die Veränderung der Gesellschaft durch Einwanderung.

Während die Überalterung der Gesellschaft als Realität in Kirchengemeinden mit Händen greifbar ist und zumindest einige Gemeinden versuchen, sich im digitalen Bereich aufzustellen, erleben Christinnen und Christen die Zunahme religiöser und kultureller Vielfalt in unserem Land (mit Ausnahme der Arbeit mit Geflüchteten) meist nicht als einen Auftrag für ihre Kirchengemeinde. Das ist eine Entwicklung, die nachdenklich macht.

Unsere Kirche ist Teil einer Gesellschaft, in der die Einwanderung längst passiert ist. Etwa 35 Prozent der Menschen in Deutschland haben einen familiären Bezug zum Thema „Migration“. Die Frage, wie wir als Kirche diese gewachsene gesellschaftliche Vielfalt abbilden und uns interkultureller aufstellen können, liegt darum auf der Hand.

Die Zahl der im weitesten Sinne „evangelischen“ Christenmenschen mit Migrationserfahrung im Bereich der pfälzischen Landeskirche ist statistisch nicht erfasst. Es gibt etwa 25 Migrationsgemeinden unterschiedlicher Größe und Herkunft sowie schätzungsweise 150 bis 200 Christinnen und Christen in Kirchengemeinden, die aus persischsprachigen Ländern stammen und in unserer Kirche getauft wurden. Außerdem existiert eine unbekannte Anzahl von Einzelpersonen und Familien, die nicht aus Deutschland stammen und Mitglieder unserer Kirche sind.

Seit fünf Jahren gibt es darum in der Landeskirche eine Beauftragung für Christen anderer Sprache und Herkunft. Interkulturelle Öffnung ist jedoch mehr als ein Anpassungsprozess an gesellschaftliche Realitäten. Die Offenheit für Vielfalt und der sinnvolle Umgang mit ihr sind wesentlicher Auftrag der Kirche. Dies soll im Folgenden in drei Begründungszusammenhängen erläutert werden:

Die ökumenische Perspektive: In evangelischen Migrationsgemeinden begegnen uns häufig Glaubensvorstellungen und Frömmigkeitsformen, die aus dem „Raster“ unserer sonst üblichen ökumenischen Kontakte herausfallen. Während uns mit der römisch-katholischen Kirche, mit den orthodoxen Kirchen und den Freikirchen eine lange gemeinsame Geschichte und ein vielfältiges Netzwerk gewachsener ökumenischer Beziehungen verbindet, sind uns die Migrationsgemeinden häufig in vielerlei Hinsicht fremd.

Sie weisen oft keine vergleichbaren kirchlichen Strukturen auf, sondern sind als „Basisgemeinden“ organisiert. Eine konfessionelle Verortung in dem uns vertrauten Spektrum ist häufig nur schwer möglich. Bestimmte Glaubensvorstellungen und Frömmigkeitsformen von Migrationsgemeinden begegnen uns zwar bei unseren Partnerkirchen in der südlichen Hemisphäre, aber nicht im Rahmen unserer üblichen ökumenischen Kontakte.

Wir neigen darum dazu, Migrationsgemeinden das theologische Etikett „evangelikal“ oder „charismatisch“ zu geben, auch wenn sich diese Gemeinden von ihrem eigenen Selbstverständnis her als „evangelisch“ verstehen und ihnen unser konfessionelles „Schubladendenken“ fremd ist. Natürlich lässt sich fragen, warum die Landeskirche den Kontakt zu Migrationsgemeinden sucht, während wir einheimische Gemeinden mit ähnlichen theologischen Positionen eher distanziert betrachten (New Life Church, Vineyard, Er-lebt-Gemeinde)?

Ein Unterschied liegt im Entstehungshintergrund: Deutschsprachige Basisgemeinden wurden oft in Abgrenzung von oder als Alternative zur Landeskirche gegründet. Die Migrationsgemeinden hingegen entstanden aus dem Bedürfnis von Einwanderern, ihren christlichen Glauben in ihrer Sprache und mit ihrer kulturellen Prägung zu leben. Hier gibt es eine große Offenheit für Kontakte mit einheimischen Christinnen und Christen, auch aus der Landeskirche. Die Begegnung mit christlichen Migranten und auch die Auseinandersetzung mit ihren theologischen Positionen und Frömmigkeitsformen kann darum ein Weg sein zu mehr Miteinander und zur Bereicherung des eigenen ökumenischen Horizonts.

Die gesellschaftspolitische Perspektive: Wir sind als Kirche – als Gemeinschaft und als einzelne Christenmenschen – Teil der „postmigrantischen Gesellschaft“, in der eine Trennlinie zwischen „migrantisch“ und „einheimisch“ nicht mehr zu ziehen ist. Diese Realität begegnet uns in der Landeskirche vor allem im Bildungsbereich (Kindertagesstätte, Schule, Jugendarbeit), aber auch in der institutionellen Seelsorge (Krankenhaus, Gefängnis).

Nur im Bereich der Kirchengemeinden taucht die postmigrantische Wirklichkeit allenfalls am Rande auf. Für Menschen in den Kerngemeinden spielt das Thema Migration zwar mitunter im persönlichen Umfeld eine Rolle, in der Regel aber nicht im Beziehungsfeld der Kirchengemeinde. Gleiches gilt für die meisten Pfarrerinnen und Pfarrer. Dass Christen anderer Sprache und Herkunft oft in unmittelbarer Nachbarschaft leben, ist vielen gar nicht bewusst.

Hier zeigt sich die Milieu-Gebundenheit des Personenkreises, den wir mit unserer Gemeindearbeit erreichen. Kerngemeinden leben häufig in einer Art Filterblase, also einer geschlossenen Wirklichkeitswahrnehmung, die sie von gesellschaftlichen Realitäten, wie den Themen Migration, Integration und kulturelle Vielfalt abschirmt.

Die Veränderungen in unserer Gesellschaft, die sich mit diesen Schlagworten beschreiben lassen, werden allerdings auch in den Kerngemeinden bemerkt, sobald sie Gegenstand der öffentlichen Debatte werden. Dann werden die Fragen, die mit dem sozialen Wandel in der Folge der Globalisierung verbunden sind, diskutiert oder sind zumindest untergründig als Gefühl der Beunruhigung und Sorge spürbar: wachsende Ungleichheit und Abstiegsängste, das Gefühl der Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Angst vor Kontrollverlust. All das wird in der Debatte vielfach mit den Themen Migration und Integration verbunden. Dabei begegnen einem in Kirchengemeinden die gleichen rassistischen Positionen und das nationalistische Gedankengut, welche die gesellschaftliche Auseinandersetzung momentan prägen.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, als Kirche vorurteilsbewusst mit kultureller Vielfalt umzugehen und ein klares positives Signal zu geben: Wir sind an Begegnungen mit denen interessiert, die anders sind als wir selbst! Wir wollen das, was uns wichtig ist, mit anderen teilen und erfahren, was für sie von Bedeutung ist.

Die biblisch-theologische Perspektive: Interkulturelle Öffnung ist in ihrem Kern Ausdruck eines theologischen Grundgedankens, der für das Verständnis von „Kirche“ von zentraler Bedeutung ist: Bei der Begegnung mit Menschen anderer Ethnie, Kultur und religiöser Sozialisation geht es immer um die Begegnung mit dem Fremden, um das Aushalten von Verschiedenheit und um die eigene Selbstwahrnehmung im Angesicht des anderen.

Die biblische Überlieferung erzählt immer wieder von Begegnungen mit dem Fremden und berichtet davon, dass diese Begegnungen Veränderungen bewirken. Die biblische Überlieferung ist also nicht nur in sich selbst vielfältig, sie gibt der Verschiedenheit und Vielfalt auch einen besonderen inhaltlichen Stellenwert: Partikularität und Universalität sind in der Bibel stets aufeinander bezogen. Identität konstituiert sich biblisch nicht in Abgrenzung von anderen, sondern in der Offenheit für sie. Einheit löst Verschiedenheit nicht auf, sondern integriert sie. So wird auch die Kirche verstanden als der eine Leib Christi, der zugleich Gemeinschaft der Verschiedenen ist. Christenmenschen sind so von ihrer eigenen Überlieferung her zu einer Haltung aufgerufen, die offen ist für die Begegnung mit dem Fremden.

Fazit: Paradoxerweise erleben wir im derzeitigen gesellschaftlichen Kontext jedoch ein ganz anderes Phänomen, nämlich dass wir als Kirche anderen fremd werden. Unsere Glaubensinhalte, Traditionen und Bräuche, also unsere „Glaubenskultur“, sind immer weniger Menschen bekannt. Viele scheuen die Berührung mit der als fremd empfundenen Welt des christlichen Glaubens und der Kirche.

Umgekehrt wird die Begegnung mit diesen Menschen von kirchlicher Seite nicht unbedingt gesucht. Wir bleiben in unseren Kirchengemeinden lieber unter uns, leben in unserer eigenen kirchlichen Kultur und richten uns an die Milieus und Zielgruppen, die wir mit unserer Botschaft noch einigermaßen erreichen. Die Kompetenz zur Begegnung mit dem Fremden, mit Angehörigen anderer „Kulturen“ ist bei uns nur wenig ausgeprägt. Das ist angesichts einer rasch fortschreitenden Diversifizierung unserer Lebenswirklichkeiten eine ekklesiologisch bedenkliche Entwicklung.

Dr. Arne Dembek ist Pfarrer in Kandel sowie Beauftragter der Landeskirche für Christen anderer Sprache und Herkunft. Der Beitrag erschien im „Pfälzischen Pfarrerblatt“ 1/2020.

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