Der Stiftskirche auf das Dach steigen

Helga Gutermann ist eine von sechs ausgebildeten Turm- und Glockenführern in der Neustadter Kirche

Profundes Wissen: Bei Führungen vermittelt Helga Gutermann die Glockengeschichte und schildert das Leben der Türmer. Fotos: Konrad

Im Südturm: Die Lutherglocke trägt die Inschrift seines Kirchenlieds.

Wann und wo kann man schon einmal einer Kirche auf das Dach oder auf die Türme steigen und die Kirchenglocken aus nächster Nähe sehen? In der Neustadter Stiftskirche ist dies regelmäßig möglich. Sechs ausgebildete Turmführer nehmen die Besucher mit in luftige Höhen. Eine von ihnen ist Helga Gutermann.

„Unsere Glocken sind etwas Besonderes: Wir haben eines der größten Gussstahlgeläute der Welt“, sagt Gutermann schon im Kirchenschiff. Die Begeisterung für „ihre“ Kirche und Glocken ist ihr dabei deutlich anzumerken. Und so ist eine Turmführung mit der 75-Jährigen nicht einfach „nur“ ein Aufstieg auf die beiden markanten Türme. Die Besucher erfahren auch vom beschwerlichen Leben der Türmer, von der Kirchenuhr und von den sieben Kirchenglocken.

Die sieben Glocken sind nicht das erste Geläut der Stiftskirche, erzählt sie, während es eine enge Wendeltreppe in den Südturm hinaufgeht. In beiden Weltkriegen mussten die Bronzeglocken abgegeben werden. Das Edelmetall wurde zur Waffenproduktion benötigt. Der Weg in die Glockenstube führt vorbei am großen Uhrwerk, das heute durch eine Funkuhr ersetzt ist. „Die Uhr war städtisches Eigentum und wurde auch von ihr bezahlt“, sagt sie.

Ihr profundes Wissen rund um die Stiftskirche erwarb Helga Gutermann bei einer Ausbildung zur Kirchenführerin bei der Landeskirche in Speyer und einer anschließenden Ausbildung zur kirchenpädagogischen Führerin. „Eine interessante Zeit“, blickt sie zufrieden auf die insgesamt drei Ausbildungsjahre zurück. Sie begann diese nach ihrer Pensionierung, denn nur zu Hause sitzen wollte die aktive Neustadterin nicht. Zwar gehört sie der Pauluskirchengemeinde auf der Hambacher Höhe an, doch ist sie seit ihrer Kindheit mit der Stiftskirche verbunden, wurde dort zum Beispiel konfirmiert.

„Besonders gerne zeige ich die Glocken“, schwärmt die Führerin. So ist es kein Wunder, dass sie jede beim Namen nennen kann. Im Südturm hängen Johann Casimir, Calvin, Zwingli, Luther und Ursinus. In der katholischen Kirche sei jede Glocke einem Heiligen zugeordnet, erklärt die Expertin. Die evangelische Kirche kenne keine Weihe. Dafür eine feierliche Indienststellung, bei der den Glocken Paten zur Seite gestellt werden. So erhielt das Neustadter Geläut die Namen von Reformatoren und pfälzischen Wittelsbacher Kurfürsten.

Im benachbarten Nordturm, den man über einen schmalen Verbindungsgang und nur mit Klettereinlagen erreicht, zeigt die Turmführerin die beiden größten Glocken, die Kurfürsten- und die Kaiserglocke. „Besonders eindrucksvoll ist immer die Kaiserglocke. Wenn man unter die Glocke schlüpft, ist das immer das Highlight der Führung, auch für den Führer“, erzählt sie.

„Aber auch die Geschichte der Türme ist interessant, war doch der Turm immer bewohnt“, berichtet sie beim Weg in die Türmerstube. Noch über den Glocken im Südturm residierte bis 1971 der „höchste“ Angestellte der Stadt, der Türmer. In dem von außen gut erkennbaren, 1739 erbauten Türmerhäuschen warnte er vor Feinden und Feuer. Heute unvorstellbar ist, dass der Türmer und seine Familie erst 1924 einen Wasseranschluss und Toilette sowie nach dem Zweiten Weltkrieg elektrischen Strom erhielten. Bis dahin wurden Wasser und Abwasser – wie auch alle anderen Waren – mühsam über eine Seilwinde in den Turm befördert.

Die Turmführerin verweist auf eine Kerbe am gotischen Fenster im Nordturm. Diese hat ein besonders erfindungsreicher Türmer verursacht. Die Türmer mussten nämlich den Stundenschlag per Hand nachschlagen, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass auch nachts über der Stadt gewacht wurde. Dazu musste er die Treppen im Südturm hinunterklettern, über den schmalen Verbindungsgang in den Nordturm gehen und in diesem die Treppen wieder hinaufsteigen. Um dies zu vermeiden, verband der Türmer die Glocke mit einem Stahlseil, das er in seine Wohnung führte. Von dort bediente er fortan die Glocken ganz bequem.

Mit Anekdoten wie dieser gelingt es Helga Gutermann, die Besucher zu fesseln und die Geschichte der Stiftskirche erlebbar werden zu lassen. Je nach Interesse der Besucher variiert sie dabei ihre Erläuterungen. „Man muss den den Leuten seine Begeisterung zeigen“, ist sie überzeugt, nur so könne man ein guter, authentischer Kirchen- und Turmführer sein. Anette Konrad

Martin Luthers Patenglocke erklingt zum Abendgebet

Sieben Glocken der Neustadter Stiftskirche rufen seit 65 Jahren zum Gottesdienst oder schlagen die Stunde – Für Gussstahl entschieden

Bereits seit 65 Jahren läuten sie den Neustadtern zum Gottesdienst oder schlagen die Stunde: die sieben Glocken der Stiftskirche. Schon kurz nach Kriegsende beschloss das Presbyterium 1946, ein neues Geläut anzuschaffen. Bewusst entschied man sich für Gussstahlglocken, um diese bei einem möglichen Krieg nicht mehr abgeben zu müssen und auch, weil sie schlichtweg günstiger waren. Gegossen wurden sie beim Bochumer Gussstahlverein. Es ist das größte und tontiefste Geläut, das das Gussstahlwerk jemals gegossen hat.

Die Glocken hängen an gekröpften Stahljochen und in Stahlglockenstühlen und besitzen Gegengewichtsklöppel und Läutemaschinen. Die Kosten von 115 150 Mark wurden damals allein über Spenden aufgebracht – und das kurz nach der Inflation.

Johann Casimir ist die kleinste der fünf Glocken im Südturm. „Dem Schirmherrn der Stadt und des Reformierten Glaubens“, lautet ihr Stiftungstext. Sie wiegt 990 Kilogramm, ist 1,18 Meter hoch und die Taufglocke mit dem Schlagton „g“. Die Calvin-Glocke ist die „Vaterunser-Glocke“ und hat den Schlagton „f“. Ihr Gewicht beträgt etwas mehr als eine Tonne. Die Morgen- und Mittagsglocke mit dem Schlagton „es“ ist nach dem Züricher Reformator Ulrich Zwingli benannt. Sie ist 1,47 Meter hoch und wiegt über zwei Tonnen.

Martin Luthers Patenglocke, die 3,1 Tonnen wiegt, ist nach der Läuteordnung die Abendbetglocke und trägt den Spruch „Ein feste Burg ist unser Gott“. Die größte Glocke im Südturm ist die Ursinus-Glocke. Mit einem Gewicht von 4260 Kilogramm und dem Schlagton „b“ wird sie als Zeichenglocke für die Sonntagsgottesdienste eingesetzt.

Im Nordturm hängen die beiden größten Glocken: Für die Kurfürstenglocke mit Schlagton „g“ standen Rudolf II. und Ruprecht I. Pate. Sie ist die Sonntags-, aber auch die Totenglocke, 2,31 Meter hoch und 7350 Kilogramm schwer. Noch größer ist die Kaiserglocke mit einer Höhe von 2,88 Metern, einem Durchmesser von 3,21 Metern und einem Gewicht von 14 Tonnen. Sie ist nur an hohen christlichen Feiertagen und – ganz allein – am Karfreitag zur Todesstunde Jesu zu hören. rad

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