Der Mythos der Märklin-Bahn

Modelleisenbahn-Hersteller stellt sich der Herausforderung des digitalen Zeitalters - von Jochen Krümpelmann

Die erste von Märklin produzierte Spielzeuglok, die „Storchenbein“, wurde 1891 vorgestellt und mit einem aufziehbaren Uhrwerkantrieb betrieben. Foto: Märklin

Faszination Modellbau: Weit über eine Million Besucher lassen sich im Hamburger „Wunderland“ jährlich von Miniaturlandschaften wie hier dem Hamburger Michel mit Eisenbahn im Vordergrund verzaubern. Doch trotz dieses Massenandrangs frönen immer weniger dem Hobby Modellbahn. Foto: epd

Handarbeit spielt auch heute bei der Fertigung der Märklin-Produkte eine große Rolle. Foto: Märklin

Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen, weiten Meer. Mit viel Tunnels und Geleisen und dem Eisenbahnverkehr …“ – Das, was die „Dolls United“ Mitte der 1990er Jahre als Verneigung vor der Augsburger Puppenkiste melodisch aufpoliert auf den Markt gebracht hatten, ist heute schon wieder Schnee von gestern. Trotzdem bleibt die Erinnerung: an die 1960er Jahre, an „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, an das Kinderbuch von Michael Ende, das in dieser Zeit unter keinem Weihnachtsbaum fehlen durfte, und vielleicht auch an eine „echte“ Modelleisenbahn, die so manche Kinderherzen als erfüllter Weihnachtswunsch hat höherschlagen lassen.

In vielen Kinderzimmern steht oder schlummert noch heute eine solche Modelleisenbahn. Und die meisten stammen von Märklin – 1859 im schwäbischen Göppingen gegründet und 1911 mit 500 Mitarbeitern immerhin die größte Spielwarenfabrik der Welt. 1998 haben 1600 Beschäftigte für einen Umsatz von 300 Millionen D-Mark gesorgt, bis sich allmählich die große Krise heranschlich. Das alles hätte sich jedoch Firmengründer Theodor Friedrich Wilhelm Märklin, der am 20. Dezember vor 150 Jahren gestorben ist, nie erträumen lassen.

Sie wurde „Rocket“ (Rakete) genannt, die 1829 von George und Robert Stephenson für das Rennen von Rainhill gebaute Dampflokomotive. Sie war das Ergebnis einer Ausschreibung der „Liverpool and Manchester Railway“, bei der eine zuverlässig arbeitende leichte, schnelle Lokomotive gesucht wurde, die auch für den Transport von Reisenden geeignet war. Und schon Johann Wolfgang von Goethe soll als Geschenk englischer Freunde eine Miniaturausgabe der „Rocket“ besessen haben. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts kam das erste elektrisch betriebene Fahrzeug auf Schienen zum Einsatz. Etwa parallel dazu bahnten sich Loks zum Aufziehen ihren Weg durch Spielwarengeschäfte.

Rund 125 Jahre ist es nun her, dass die Firma Märklin im Verlauf der Leipziger Messe 1891 mit ihrem Stand wie ein Publikumsmagnet wirkte. Der Grund: Das Unternehmen präsentierte der staunenden Menge eine Lok nebst Wagen, die mit Uhrwerkantrieb auf einem Schienenkreis ihre Runden drehte. Die erste Systemeisenbahn hatte das Licht der Welt erblickt, der Startschuss zur Serienfertigung war abgefeuert. So fasziniert die Modelleisenbahn seit mehr als einem Jahrhundert in Deutschland gleichermaßen Söhne und deren Väter – und in nicht zu unterschätzender Zahl auch Töchter und ihre Mütter. Bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat Märklin als einer der ersten Modellbahnhersteller digitale Anwendungen für seine Produkte auf den Markt gebracht. Heute steht bereits die vierte Weiterentwicklung für den Handel zur Verfügung. „Wir können die Modellbahn per Computer, mit dem Smartphone oder dem Tablet steuern. Die Digitalisierung ist auch hier voll im Trend. Unsere Lokomotiven verfügen dafür über bis zu 32 Funktionen und Geräusche“, unterstreicht Eric-Michael Peschel, Leiter Event Marketing bei Märklin.

Dabei hat das Unternehmen in der jüngeren Geschichte schwerste Zeiten überstehen müssen. Erste dunkle Wolken waren im Januar 2005 aufgezogen, als mehr als 100 Exponate bei einem Einbruch ins Museum an der Stuttgarter Straße im württembergischen Göppingen gestohlen wurden. Nicht viel später werden Umsatzeinbußen verzeichnet, die Modelleisenbahn scheint in Zeiten des Computerspiels kein Selbstläufer mehr zu sein.

Die Modellbahndiebe sind zwar irgendwann hinter Schloss und Riegel, die meisten Ausstellungsstücke ramponiert wieder zurück, doch die Märklin-Mitarbeiter haben weitere schmerzliche Einschnitte zu beklagen: Lohnkürzungen, Entlassungswellen. Ob sogenannte „Heuschrecke“ oder nicht: Im Frühjahr 2006 wird eine Insolvenz knapp abgewendet, der britische Investor Kingsbridge übernimmt, saniert und verlagert Produktionen ins Ausland. 2009, genau zum 150. Geburtstag, ist das Unternehmen so gut wie am Ende, diesmal kann die Insolvenz nicht mehr abgewendet werden.

Und dennoch: „In Deutschland ist der Name Märklin mit einem Bekanntheitsgrad von 95 Prozent bekannter als etwa Coca-Cola.“ Das haben im August 2008 Johannes Blome-Drees und Reiner Rang in ihrer Dokumentation „Die Aktivitäten von Finanzinvestoren in Deutschland am Beispiel des Modelleisenbahnherstellers Märklin“ im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung festgestellt. Das ist einer der Pfründe, mit denen der Insolvenzverwalter wuchert.

2013 übernimmt die Simba Dickie Group, ein Unternehmen mit breit gefächerter Erfahrung im Spielzeugbereich für alle Altersgruppen, den inzwischen wieder besser aufgestellten Modelleisenbahn-Hersteller. Drei Jahre mit Unternehmensgewinnen Märklins nach 2010 hatten Michael Sieber, den Chef von Simba Dickie, überzeugt. Heute ist sein Sohn Florian Sieber Geschäftsführer der Gebrüder Märklin und Cie. GmbH.

Um schon den ganz Kleinen das Tor zur Welt auf Schienen zu öffnen, hat Märklin die Produktserie „My World“ für die Kinderzimmer der Drei- bis Siebenjährigen konzipiert. Für die etwas Älteren bis zum zwölften Lebensjahr ist „Märklin Start up“ vorgesehen, um später in die ganz normale „große“ Märklin-Welt zu leiten. Auf diese Art und Weise hat das Unternehmen den Trend vieler Spielwarengeschäfte gestoppt, die Modelleisenbahn aus ihrem Sortiment zu entfernen. Denn die Produktserie für die Kleinsten zu führen, ist den meisten eine Pflicht. „Märklin hat seine Produktpalette so aufgestellt, dass jedes Kind ab drei Jahren – ob Mädchen oder Junge – mit der Eisenbahn spielen kann“, sagt Eric-Michael Peschel.

Die Liste der Spurweiten von Modelleisenbahnen ist schier endlos. Märklin hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts versucht, diese zu standardisieren. Und so wurden die Größen 0, 1, 2 und 3 eingeführt. Dabei bedeutet 0 eine Spurweite von 32 Millimetern (Maßstab 1 : 48), 1 entspricht 45 mm (1 : 32) und so weiter. Die Spur 2 (1 : 22,5) wird oft als Gartenbahn eingesetzt, es gibt aber noch weit größere Spurweiten. In Kinderzimmern und auf Dachböden dürften allerdings die Spurweiten H0 (Abkürzung für „halb null“; Maßstab 1 : 87) sowie N (1 : 160) die am weitesten verbreiteten sein.

Bleibt noch ein Aspekt, der wiederum Erwachsene am meisten freut: der Lerneffekt, den eine Modelleisenbahn ganz automatisch von sich gibt, befasst sich der kleine oder große Modelleisenbahner mit der Weiterentwicklung seiner Anlage. Der Unterschied zwischen Gleich- und Wechselstrom, Lichtversorgung der Modellhäuschen, Unterbrechung des Stromflusses, Signalschaltung, automatische Weichenstellung und so weiter und so fort. Was einst aus mechanischer Handarbeit bestand, kommt im Digitalzeitalter dem Computer-Programmieren gleich. Und beides fördert technisches Verständnis. Jedenfalls ist eines gleichgeblieben – vor 50 Jahren wie heute: Ist der Fehler gefunden, klappt die neue Schaltung endlich, ist das Glücksgefühl unermesslich.

Um auf Lukas, den Lokomotivführer, mit seinem kleinen Jim Knopf zurückzukommen: Lummerland wird niemals „Schlummerland“. Denn genau wie im Großen, im wahren Leben, sich glücklicherweise über den ganzen Erdball verteilt Museumseisenbahnen gegründet haben, um die technischen Errungenschaften vergangener Jahrhunderte dauerhaft zu bewahren, so sieht es auch im Kleinen aus. In welchem Maßstab auch immer: Eine Insel (ein Kleinod) mit Bergen und vielen Tunnels und noch mehr Gleisen sowie dem Eisenbahnverkehr wird nicht nur den jungen Menschen unserer Gesellschaft ein kleines Funkeln in die Augen treiben, sondern vielfach auch den Älteren. Der Erfolg des grandiosen Miniaturwunderlands Hamburg mit seinen faszinierenden detailgetreuen Landschafts- und Städtenachbauten ist nur ein Beispiel. Die oft früh ausverkauften Sonderfahrten der Museumsbahnen sind ein weiteres.

Egal also, ob erste „Rollversuche“ der Kleinsten, egal, ob einfaches Oval mit Ausweichgleis oder doppelspurig angelegtes Schienensystem, egal, ob analog oder digitale Profianlage aus Modulen – gesteuert von computergestütztem High­tech und multifunktional bedient mit dem Smartphone oder dem Tablet in der Hand: Auch in diesem Jahr wird unter dem einen oder anderen Weihnachtsbaum wieder eine Modellbahnanlage aufgebaut sein. Für die jungen, die etwas älteren oder die reifen Menschen, die Gefallen an diesem sehr schönen Hobby gefunden haben oder noch finden werden.

Märklin-Museum

Das Märklin-Museum bietet Interessierten auf mehr als 1000 Quadratmetern eine Darstellung der über 150-jährigen Firmengeschichte mit vielen historischen Produkten. Daneben gibt es einen Shop mit der aktuellen Märk­lin-Produktpalette sowie einen Service Point mit Reparaturannahme und direktem Verkauf von häufig benötigten Ersatzteilen. Adresse und Öffnungszeiten: Märklin Museum, Reutlinger Straße 2, 73037 Göppingen, Telefon 0 71 61 / 608-289. Das Museum ist Montag bis Samstag von 10 bis 18 Uhr, an verkaufsoffenen Sonntagen jeweils von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ins Museum ist frei. Informationen im Internet unter: www.maerklin.de/de/erlebnis/maerklin-museum/vorstellung. jok

Meistgelesene Artikel