Der Auftakt zum großen Morden

Tötungsanstalten für psychisch Kranke und geistig Behinderte: Übungsfeld für Auschwitz und Treblinka

Die Idylle trügt: Schloss Grafeneck diente als Unterkunft für das Personal der ersten Vernichtungsanstalt. Foto: Klaus Franke

Geistig Behinderte wurden als lebensunwertes Leben diffamiert. Foto: epd

Die Morde an psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen in Grafeneck sind der Auftakt zum Genozid, der später im großen Stil in den Vernichtungslagern Auschwitz, Treblinka, Majdanek und Belzec praktiziert werden sollte. Hier erprobte das NS-Regime seine Tötungsmaschinerie.

Sechs zentrale Tötungsanstalten für Kranke hat es in Deutschland gegeben: Neben Grafeneck waren das Hadamar in Hessen, Bernburg an der Saale, Brandenburg an der Havel, Pirna-Sonnenstein in Sachsen und Hartheim bei Linz in Österreich. Rund 70000 Menschen fanden dort den Tod, 20 Prozent aller Anstaltsinsassen. „Aktion T4“ lautete der Tarnbegriff. T4, weil in der Tiergartenstraße 4 in Berlin die Schreibtische derer standen, die die Vernichtung planten. Grafeneck auf der Schwäbischen Alb war die erste dieser Vernichtungsanstalten. Anfang Oktober 1939 erhielt die Samariterstiftung dort einen Räumungsbeschluss.

Die Vernichtung der Erbkranken, wie sie bezeichnet wurden, kam nicht von ungefähr. Die Diffamierung beginnt 1859 mit Darwins „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“. Sein Vetter Francis Galton macht daraus ein Modell für die menschliche Gesellschaft und führt 1883 den Begriff der Eugenik ein: Minderwertige sollen von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden.

1905 gründet Alfred Ploetz die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“, vier Jahre später wird der Psychiater Emil Kraepelin die These aufstellen, dass Geisteskrankheiten auf Vererbung und Degeneration beruhen. Entartung ist ein anderes Wort dafür und ein Begriff, dem man später bei den Nationalsozialisten immer wieder begegnet. Ploetz hält die Pflege von Kranken für Gefühlsduselei und bereits im Ersten Weltkrieg verhungern 70000 Psychiatriepatienten. Noch geht es dabei nicht um gezielte Tötung: Die forderten hingegen schon 1920 der Jurist Karl Binding und der Mediziner Alfred Hoche in ihrer Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Noch vor dem sogenannten Gnadentod, der mit einem anderen Wort auch als Euthanasie bezeichnet wurde, kommt die Zwangssterilisierung. Die Unfruchtbarmachung Kranker ist eines der ersten Dinge, die die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung in Angriff nehmen.

Den unheilbar Kranken den „Gnadentod“ gewährt

Bereits am 14. Juli 1933 wird das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet. Wer an Krankheiten wie angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, Epilepsie, erblicher Blindheit, Taubheit oder schwerer körperlicher Missbildung leidet, ist zu melden.

Am 31. August 1939 erfolgte ein Sterilisierungsstopp im Deutschen Reich. Was vordergründig wie eine gute Nachricht klang, war tatsächlich der Auftakt zum Töten. Durch einen Erlass am 21. September 1939 begann nun die vollständige Erfassung aller Anstalten in Deutschland. Parallel dazu hatte Hitler NS-Reichsleiter Philipp Bouhler und SS-Arzt Karl Brandt schriftlich ermächtigt, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“.

Das Schreiben vom Oktober wird zurückdatiert auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, und es sollten in der Folge immer wieder die Notwendigkeiten des Krieges sein, die bemüht wurden, um die nun folgende Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ zu begründen. Ab Oktober 1939 erhalten die Anstalten Meldebögen, im Februar 1940 werden die Direktoren der staatlichen Anstalten vom Leiter der Gesundheitsabteilung im württembergischen Innenministerium von Eugen Stähle offiziell über das Anlaufen der Euthanasieaktion informiert.

Die ersten Opfer glauben noch an einen Ausflug, als sie in die Busse der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (Gekrat) einsteigen. Später ahnen viele, dass auf sie etwas Schlimmes zukommt. Manche schreien, müssen festgebunden oder mit Spritzen beruhigt werden. Die Busse der Gekrat werden zum Symbol der Krankenmorde. Es sind grau umlackierte Fahrzeuge der Reichspost, deren Fenster mit Milchglas ausgestattet oder grau angestrichen werden. Das nützt nicht viel. Bald sickert durch, welchem Zweck die Transporte wirklich dienen.

Es ist eine Prozedur, die immer gleich abläuft: Die Kranken werden in Empfang genommen, ausgezogen, gemessen, fotografiert, untersucht – und ermordet. Die Tötung erfolgt immer am Tag des Eintreffens. Alle Todesdaten, die einen späteren Zeitpunkt ausweisen, sind gefälscht. Stets ist also der Zeitpunkt der Verlegung, wie die Deportation offiziell heißt, identisch mit dem Todestag der Kranken.

Die Angehörigen werden systematisch hinters Licht geführt, erst benachrichtigt, wenn die „Verlegung“ bereits stattgefunden hat und dann mit Trostbriefen abgespeist. Dazu ist ein eigenes Standesamt im Schloss Grafeneck eingerichtet worden. Alle Unterzeichnenden haben falsche Namen und weil anfangs zu viele Kranke am gleichen Ort und am gleichen Tag als verstorben gemeldet wurden, wird sogar eine eigene Absteckabteilung gegründet, die die Todeszeitpunkte und Sterbeorte verteilt und Akten mit den anderen Vergasungsanstalten austauscht.

Transport um Transport trifft 1940 in Grafeneck ein. In Gruppen bis zu 75 Personen werden die Kranken vergast. Die Geheimhaltung fällt dabei immer schwerer. Auch gestaltet sich die Kooperation mit den kirchlichen Einrichtungen erheblich schwieriger als mit den staatlichen. Manche Anstaltsleiter weigern sich, die Meldebögen auszufüllen und ab Mitte 1940 protestieren auch die Landeskirchen und Wohlfahrtsverbände. „Wie ich höre, ist auf der Alb große Erregung“, schreibt Heinrich Himmler Ende 1940 – und tatsächlich wird die Tötungsanstalt Grafeneck im Dezember 1940 geschlossen. Die Gründe dafür sind allerdings weit weniger eindeutig, als man annehmen könnte. Zwar spielen die Unruhe in der Bevölkerung und die Proteste des Landesbischofs eine Rolle, doch hat man auch die gesteckten Ziele erreicht. Überdies geht der Betrieb in den anderen Vernichtungsanstalten ungebremst weiter.

Erst die mutigen Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen im August 1940 werden der zentralen T4-Tötungsmaschinerie ein Ende bereiten, ohne dass das Morden vollständig zum Stillstand kommt: Nun geht es in den Anstalten selbst weiter, wo man Erbkranke mit Luminal tötet oder systematisch verhungern lässt.

Bald nach der Schließung der zentralen Tötungsanstalten für Geisteskranke wird die Vernichtung der Juden in den besetzten Gebieten Osteuropas beginnen. Die Krankenmorde waren dafür ein ideales Übungsfeld, aus dem man auch eine Erkenntnis gewonnen hat: Man kann Menschen ausgrenzen, diskriminieren und fortbringen. Aber ihre Tötung darf nicht in großem Umfang unter den Augen der Bevölkerung stattfinden. Folglich wird es auf dem Gebiet des Altreiches ab 1942 auch keine neuen Vernichtungslager mehr geben. Auschwitz, Treblinka und Majdanek sind so weit weg, dass man später leichter behaupten kann, von alledem nichts gewusst zu haben. Andreas Steidel

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