Den Weg alles Irdischen

Im „Garten der Erinnerung“ hängen Kaffeetassen von Verstorbenen am Lattenzaun

Im "Garten der Erinnerung" tragen die "Soldaten" Brillen.

In seiner Telefonzelle hat Trauerseelsorger Werner Gutheil keinen Platz für ein Telefon.

Fußleisten eines Orthopädie-Schuhmachermeisters hängen im Bündel im „Garten der Erinnerung“. Fotos: Renate Haller

von Renate Haller

Eine Telefonzelle ohne Telefon, ein Fahrrad, das zu schweben scheint, und ein Stuhl, der in Kaffeetassen steht: Berührungsängste mit Skurrilitäten kennt Werner Gutheil nicht. Mit Dingen von Verstorbenen hat er einen „Garten der Erinnerung“ geschaffen. Doch für die Ewigkeit wird hier nichts konserviert.

Soldaten“ nennt er sie. Weiße Kunststoffkannen mit der Öffnung nach unten auf Holzpfosten gestülpt, stehen in Reih und Glied. Sechs sind es an der Zahl. Zwei von ihnen tragen eine Brille und sehen aus wie animierte Rüsseltiere aus einem Comicfilm. „Die Brille eines verstorbenen Angehörigen wirft niemand gerne weg“, sagt Werner Gutheil. Dass erst zwei der sechs „Soldaten“ eine Sehhilfe tragen, liegt schlicht daran, dass die Pfosten noch nicht lange stehen.

Rund um sein Elternhaus im hessischen Neuhof-Rommerz bei Fulda hat der katholische Pfarrer Gutheil einen „Garten der Erinnerung“ angelegt. In ihm sammelt er Alltagsgegenstände von Verstorbenen und baut sie ein in Beete, kleine Gartenhüttchen oder auch den Carport. Unter dessen Dach hängt eine Stange, an der Tassen aufgereiht sind. Der Aufdruck einer der Kaffeebecher verrät, dass der FC Bayern-München auch in der Saison 2009/2010 Deutscher Fußballmeister war.

„Der Verstorbene war Bayern-Fan, der Rest der Familie ist Eintracht-Fan. Die Kinder wollten die Tasse nicht haben, wollten aber auch nicht, dass ihre Mutter sie wegwirft“, erzählt Gutheil.

So wie dieser Familie geht es vielen. Sie haben Dinge eines Toten zu Hause, an denen Erinnerungen hängen und die sie nicht wegwerfen wollen. Behalten und täglich anschauen wollen sie die Tasse, den Krückstock, die Brille oder die Schuhe aber auch nicht. An diesem Punkt kommt Gutheil ins Spiel: „Was kommt, wird integriert“, sagt der 55-Jährige. Zum Teil macht er Kunst aus Dingen, die ein Leben geprägt haben. Aktuell wartet er auf ein Aquarium. Der Besitzer ist verstorben, seine Frau will es nicht behalten. Noch aber leben zwei Fische darin.

Gutheil ist Diözesanseelsorger des Bistums Fulda für Trauernde. In Hanau hat er ein Trauerzentrum aufgebaut und nach eigenen Angaben das Grabmal für früh verstorbene Kinder initiiert. Dort wollte er eigentlich auch den Garten der Erinnerung anlegen, ist aber am Widerstand der Anwohner gescheitert. „Die Konfrontation mit der Vergänglichkeit war zu stark“, vermutet er.

Gutheil will die Menschen einladen, Dinge mitzubringen und die Geschichte dazu zu erzählen. „Das ist eine Form der Trauerarbeit“, sagt er. Die Gegenstände stehen für die Verstorbenen, symbolisieren sie und drücken eine Verbindung aus. Deshalb wollten die Angehörigen sie nicht wegwerfen, sondern an einem Platz wissen, wo sie eine gewisse Wertschätzung erfahren. Immer wieder habe er in Trauergesprächen gehört, dass Angehörige sich schlecht fühlen, wenn sie nach dem Tod eines lieben Menschen seine Sachen entsorgen. Sie sagen das sei, als würden sie den Toten vernichten, erzählt Gutheil aus seiner Arbeit.

Aufgabe der Trauernden ist es, einen Platz in der veränderten Welt zu finden, einer Welt ohne den Toten, erläutert Traugott Roser, Praktischer Theologe an der Uni Münster. Dazu gehört auch, eine neue Beziehung zu dem Toten zu gestalten. „Was ich mit den Erinnerungsstücken tue, überträgt sich“, sagt Roser. Entsorgt jemand die Lieblingsmütze in der Altkleidersammlung, entspricht das unter Umständen nicht der emotionalen Bindung.

Erfahren hat das auch die Witwe eines Orthopädie-Schuhmachermeisters. Die Holzleisten, die ihr Mann in seiner Werkstatt hatte, „wollte sie in der Heizung verbrennen, konnte es dann aber nicht“, erinnert sich Gutheil.

In seinem Garten hängt nun ein ganzes Bündel der Leisten an einer Holzwand, ein anderer Teil erklimmt eine Himmelsleiter. In der hängen auch fünf Stühle, darunter zwei aus der früheren Küche von Gutheils Eltern und ein Kinderstuhl, der an verstorbene Kinder erinnern soll. Vom Himmel aus, so Gutheil, könnten sich die Verstorbenen anschauen, was sie zurückgelassen haben.

Ein weiterer Stuhl steht neben einem Beet, die Beine stecken in Kaffeebechern. Die kleine Installation verrät, dass der Verstorbene auf dem Stuhl sitzend immer Kaffee getrunken hat.

Erinnerungsstücke sind wichtig für die Trauerarbeit, sagt Theologe Roser und bezeichnet sie als Fortführung der Reliquienkultur. Sie zeigen, dass die Erinnerung nicht nur den eigenen Gedanken und Emotionen entspringt, sondern dass der oder die Tote real waren, „sie sind ein Beweis für die Existenz und eine Verbindung zwischen dem Erinnerndem und dem Erinnerten“. Entfernt jemand wichtige Erinnerungsstücke aus dem Alltag, sei das ein großer Schritt in der Trauerarbeit. Der Alltag wird frei, die Erinnerung bekommt einen abgegrenzten Platz und hat keine Macht mehr über Ort und Zeit. Sind die Stücke an einem würdigen Platz verwahrt, haben die Trauernden zudem die Möglichkeit, sie zu besuchen und dann die Erinnerung zuzulassen.

Das gilt auch für Videos von Toten. „Wir sehnen uns nach dem Bewegungsmuster und der Stimme der Toten“, sagt Roser. Diese Sehnsucht könnten moderne Speichermedien befriedigen. Gleichzeitig hätten Trauernde die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wann und wie oft sie das Video anschauen. Roser spricht von einer Visualisierung von Trauer und Erinnerung. Bilder von Kreuzen und abgeknickten Rosenzweigen auf Traueranzeigen zum Beispiel verschwänden zunehmend zugunsten von Porträts der Verstorbenen. In den meisten Familien gebe es mehr Bilder als früher und auch Videos, die die Menschen in die Trauerarbeit integrieren. „Das ist ein kultureller Wandel, mit dem wir umgehen können“, bilanziert Roser. Gefährlich werde es nur dann, wenn sich etwa ein Film zum Fetisch entwickelt, den jemand ständig ansehen muss.

In Gutheils „Garten der Erinnerung“ steht auch eine Telefonzelle. Sie stammt nicht von einem Verstorbenen, sondern ist ein Geschenk von Freunden. Eintreten kann aber niemand. An ihrer Decke hängt ein Kronleuchter, Marke Gelsenkirchener Barock, in zwei Regalen darunter drängen sich zwei Weihnachtskrippen. „Das hat gerade gepasst“, sagt Gutheil schmunzelnd.

Die Böschung hin zu einer Einliegerwohnung stützen Grabsteine, Holzkreuze hängen an der Rückwand eines Gartenhäuschens. Vor ihnen ist eine Katze begraben.

Wer durch den Garten läuft, entdeckt immer wieder skurrile Kleinigkeiten, die überraschen. In einem Gebüsch steht ein halb verrosteter Einkaufswagen, in dem sich Spielsachen angesammelt haben, an einem Gartenhäuschen hängt, fast vollständig zugewachsen, eine Glasvitrine, in der Gutheil Kreuze sammelt. Kaffee­becher schützen die Latten des Gartenzauns, Spazierstöcke und Krücken hängen an der Rückwand des Carports. Direkt daneben ist ein Briefkasten aus Metall befestigt. Einen „Briefkasten in die Ewigkeit“ will Gutheil hier als Nächstes zugänglich machen. Er will Gemeinden ermuntern, in der Fastenzeit Briefpapier an trauernde Familien zu verteilen. Sie können Briefe an die Verstorbenen schreiben und dann im Osterfeuer verbrennen. Das habe eine reinigende Wirkung, ist sich Gutheil sicher. Wer seinen Brief nicht verbrennen kann, habe dann die Möglichkeit, ihn in den „Briefkasten in die Ewigkeit“ zu werfen. Ewig wird er dort aber nicht bleiben. Von Zeit zu Zeit wird der Trauerseelsorger die Schriftstücke verbrennen.

Überhaupt ist in seinem Garten der Erinnerung nichts von Dauer. Manche Objekte sind durch ein Dach ein wenig geschützt, das meiste aber ist der Witterung preisgegeben. „Die Dinge werden vergehen, wie alles Irdische“, sagt Gutheil.

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