Bündnis von Glaube und Vernunft

Kirche als bekennende Kirche – Protestantismus und Freiheit als kritisches Prinzip • von Christian Schad

Ich wünsche mir, dass wir die Schätze heben, die uns anvertraut sind: Kirchenpräsident Christian Schad in seinem Bericht vor der Unionssynode in Kaiserslautern. Foto: view

Die Unionsbegründer verstanden sich als Reformer. Keine neue Kirche wollten sie gründen; die „Wiedervereinigung beider bisher getrennten protestantischen Confessionen“ war ihr Ziel. Um die Vollendung der Reformation ging es ihnen und um das Fortschreiten der Kirche in eine bessere Zukunft. „Die fröhliche Rückkehr eines neuen religiösen Lebens“ erwarteten sie, „welches alle Verhältnisse der protestantischen Gesamtgemeinde gleich kräftig“ umfasst und durchdringt.

Die für sie bestimmende Lehrgrundlage zeichnet sich durch maximale Reduktion aus. Die Synode von 1818 erhebt allein das Neue Testament zur Glaubensnorm und erklärt die lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften für „völlig abgeschafft“. Das rief den Widerstand des katholischen bayerischen Königs und des Münchner Generalkonsistoriums auf den Plan. Ihre Einwände führten schließlich zur endgültigen Fassung des Paragrafen 3 der Vereinigungsurkunde, die von der Generalsynode erst 1821 verabschiedet wurde.

Er lautet: „Die protestantisch-evangelisch-christliche Kirche hält die allgemeinen Symbola (die drei altkirchlichen Bekenntnisse) und die bey den getrennten protestantischen Confessionen gebräuchlichen symbolischen Bücher (die lutherischen und die reformierten Bekenntnisschriften) in gebührender Achtung, erkennt jedoch keinen andern Glaubensgrund noch Lehrnorm, als allein die heilige Schrift.“ Diese Bestimmung der Unionsurkunde von 1821 soll nach dem Willen der Synode in unsere Kirchenverfassung aufgenommen werden. Was heißt es aber, die Bekenntnisse gebührend zu achten?

Dazu ist es hilfreich, zwischen dem Bekennen, dem Bekenntnis als einer bestimmten, auf Wiederholung angelegten Bekenntnisaussage oder Bekenntnisformel und den Bekenntnisschriften als den für eine Glaubensgemeinschaft prägenden Lehraussagen zu unterscheiden. Was alle drei Dimensionen miteinander verbindet, ist das öffentliche Stehen-zu-Jemand oder Stehen-zu-Etwas. Ein Bekenntnis ohne Öffentlichkeitsanspruch ist überhaupt kein Bekenntnis.

Kirche ist von Anfang an bekennende Kirche. Bekennen heißt: Antworten. Antwort geben darauf, dass Gott uns mit seinem befreienden und versöhnenden Wort „nahe“ gekommen ist (Römer 10, 8). Bekennen, so sagt es Karl Barth, ist die dankbare Empfangsbestätigung von Menschen, dass Gottes Wort sie erreicht hat. Sie hat ihren Ort in der Anrufung Gottes, im Gebet.

Zum Bekennen gehört nach Paulus ein menschlicher Mund und ein gläubiges Herz. „Wenn du“, so der Apostel, „mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet“ (Römer 10, 9). „Kyrios Iesous“, „Herr ist Jesus“, dieser Ausruf ist das kürzeste und älteste christliche Glaubensbekenntnis. Es drückt aus, wofür Christen als Einzelne und als Gemeinschaft vor Gott und den Menschen stehen.

Das Antworten und Verantworten des Glaubens geschieht dabei nie ein für alle Mal. Es ist an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Situationen je unterschiedlich herausgefordert. Mithin ein permanenter Prozess: der immer nur vorläufige Versuch, die Inhalte des christlichen Glaubens sach- und zeitgemäß zur Sprache zu bringen. In diesem Sinn kann etwa Martin Luther sagen: „Tota nostra operacio confessio est“: „All unser Tun, unser gesamtes christliches Leben, ist ein Akt des Bekennens.“ Und die Unionsurkunde von 1818, sie bezeichnet im Paragrafen 5, der das Abendmahl behandelt, „die Protestanten des Rheinkreises … öffentlich, für seine (für Jesu Christi) Bekenner“.

Wie steht es mit unserem eigenen Bekennen heute? Zeigen wir Gesicht in einem zunehmend traditionsfreien Umfeld, in einer Zeit verlöschender Träume? Sind wir kenntliche Menschen – und ist die evangelische Kirche eine erkennbare Institution? Leicht kann die „gebührende Achtung“ vor den verschiedenen Bekenntnissen umschlagen in eine mehr oder weniger freundliche Ignoranz.

Ich wünsche mir, dass wir die Schätze heben, die uns anvertraut sind. Und dass wir sie miteinander und mit Menschen teilen, die nur halb oder gar nicht glauben. Dass wir eine ansprechende Sprache und Ausdrucksmöglichkeiten finden für das, was uns im Innersten bewegt. Dass wir unsere Türen weit geöffnet haben. Jeder soll eintreten können – und so lange bleiben und sich die Geschichten und Lieder ausleihen können, wie er oder sie will. Und dabei erfahren, dass Christen für etwas stehen. Einstehen dafür, dass niemandem die Zukunft versperrt sein soll, dass wir zur Freiheit berufen sind und dass Arme, Kinder und Fremde die ersten Adressaten des Evangeliums sind.

Vielleicht merken wir dabei, wie gut es ist, sich durch geprägte Texte inspirieren zu lassen – und so etwas wie eine neue Bekenntniskultur zu entwickeln. Dass wir zum Beispiel an Sonntagen das Apostolische Taufbekenntnis gemeinsam sprechen, dass wir in ökumenischen Gottesdiensten das Nizänum pflegen und die Stimmenvielfalt derer vor und neben uns aufnehmen, indem wir alte und neue Bekenntnislieder singen. Immer dessen bewusst, dass sie Nahrung waren und Nahrung sind für unsere Geschwister – nicht immer leichte Kost, auch harte Nüsse, die aber essbare Kerne haben. Nicht zuletzt: mittels „echt-religiöser Aufklärung“, wie es in der Unionsurkunde heißt.

In diesem Begriff schwingt für mich beides mit: der von der Vernunft aufgeklärte Glaube – und die vom Glauben eingehegte – und darum niemals grenzenlose Vernunft. Dieser Begriff markiert vor allem aber die geistigen Grundlagen der pfälzischen Kirchenunion: Aufklärung und Rationalismus.

Die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung wurde im 18. Jahrhundert zur epochalen Aufgabenstellung der Theologie. In kritischer Absicht befragte man die biblische Überlieferung, die Dogmen und die religiösen Traditionen nach ihrem vernünftigen Gehalt – sowie nach ihrer lebenspraktischen Relevanz. Mittels historisch-kritischer Exegese und durch kritisch orientierte Dogmengeschichtsschreibung suchte man den rationalen Kern der Tradition herauszuschälen, um ihn für eine neue, eine zeitgemäße Ausdrucksgestalt des christlichen Glaubens in Gebrauch nehmen zu können.

Anstatt nun aber heute die gewiss zeitgebundenen, rationalistischen Problemlösungen einfach nur zu wiederholen, wäre vielmehr darauf zu achten, ihre Fragen und ihre Problemstellungen ernst zu nehmen. Denn sie bestimmen bis heute das Problembewusstsein neuzeitlicher Theologie: So achten wir das Individuum. Wir orientieren uns am Gewissen des Einzelnen. Protestanten glauben aufgeklärt. Sie haben Mut zur Zeitgenossenschaft und lassen Raum für unterschiedliche Frömmigkeitsstile.

Dass Aufklärung und Protestantismus, dass Glaube und Vernunft, ein intimes Bündnis eingegangen sind, ist also ein hohes, bewahrenswertes Gut. Denn eine nicht durch den Glauben aufgeklärte Vernunft bleibt unerfahren und unaufgeklärt, weil sie sich keine Rechenschaft über ihre Grenzen ablegt. Sie verkennt ihren Charakter als endliche Vernunft, dem Menschen anvertraut, damit er mit seiner endlichen Freiheit umzugehen lernt.

Andererseits trägt ein nicht durch die Vernunft aufgehellter Glaube die Gefahr in sich, barbarisch und gewalttätig zu werden. Nur ein aufgeklärter Glaube bewahrt vor Aberglauben, vor religiösem Fundamentalismus und Fanatismus.

Es ist meiner Überzeugung nach gerade heute notwendig, die wechselseitige Verwiesenheit von Vernunft und Glaube, von Glauben und Verstehen, immer wieder neu zu entfalten – und auch im Blick auf andere Religionen, den Islam zum Beispiel, stark zu machen. Denn aus eigener Erfahrung haben wir guten Grund dazu, ähnliche Prozesse in anderen Religionen zu erhoffen; auch, dass Formen des Islams an innerer Kraft gewinnen, die unter dem Dach der Freiheit, der Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen – und damit: der Wahrung der Menschenrechte zu Hause sind. Nur ein menschenrechts-verbundener Islam gehört zu Deutschland, ein fundamentalistischer oder antisemitischer Islam hingegen nicht.

Die Verbindung von Protestantismus und Freiheit prägt als kritisches Prinzip den Weg unserer Kirche. Nicht zufällig gehörten die Unionsbegeisterten darum zu den Protagonisten des Hambacher Fests des Jahres 1832. Hier verband sich das protestantische Emanzipationspotenzial mit der frühen Demokratiebewegung in Deutschland – mit ihrem Einsatz für Meinungs-, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Dieser Mut zur Zeitgenossenschaft war Folge der im Glauben erfahrenen Freiheit – und hatte, zumal öffentlich artikuliert, Bekenntnischarakter. 

Dieser Artikel ist ein redaktioneller Auszug aus dem Bericht des Kirchenpräsidenten zum Thema „200 Jahre Pfälzer Kirchenunion“ vor der Synode in Kaiserslautern. Der Wortlaut soll in den „Protestantischen Pfalztexten“ im Verlagshaus Speyer veröffentlicht werden.

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