Blutiger Beginn

Mit der Novemberrevolution vor 100 Jahren entsteht die erste deutsche Demokratie • von Nils Sandrisser

Philipp Scheidemann ruft am 9. November mittags in Berlin die Republik aus. Foto: wiki

Kämpfe zwischen Reichswehr und revolutionären Arbeitern in Berlin im September 1919. Foto: wiki

Mit Propagandaplakaten werben die rechtsgerichteten Freikorps um Mitglieder. Foto: wiki

Als der Erste Weltkrieg zu Ende geht, bricht auch die deutsche Monarchie in sich zusammen. Der SPD-Politiker Philipp Scheidemann ruft die Republik aus. Aber unklar ist, was auf das Alte folgen soll – ein parlamentarisches oder ein Rätesystem? Die Entscheidung fällt durch Gewalt.

Der SPD-Staatssekretär Philipp Scheidemann sitzt am 9. November gegen 14 Uhr gerade beim Mittagessen im Reichstagsgebäude, als er erfährt, dass Karl Liebknecht, einer der Führer der sozialistischen Spartakusgruppe, die Republik ausrufen will. In der Berliner Innenstadt demonstrieren schon den ganzen Tag Menschen. Scheidemann tritt auf einen Balkon des Reichstags. „Das alte Morsche ist zusammengebrochen“, ruft er den Menschen zu. „Es lebe die Republik!“

Zwei Stunden später steht Liebknecht vor dem Berliner Stadtschloss auf der Ladefläche eines Lastwagens und ruft die sozialistische Räterepublik aus. Aber er kommt zu spät. Die Sozialdemokraten behalten die Regierungsgewalt.

Die haben sie schon seit Anfang Oktober inne. Unter dem Eindruck der militärisch hoffnungslosen Lage im Ersten Weltkrieg legte Erich Ludendorff, der starke Mann des Militärs, Kaiser Wilhelm II. nahe, eine neue Regierung aus demokratischen Parteien zu berufen. „Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss“, sagte er. Daher trat unter Reichskanzler Max von Baden eine neue Regierung zusammen aus SPD, der katholischen Zentrums- und der Fortschrittspartei. Die SPD war allerdings seit 1917 gespalten in gemäßigte Mehrheits- und linke Unabhängige Sozialdemokraten (USPD). Die USPD war nicht Mitglied der Regierung.

Der neuen Regierung sollte auch das Militär unterstehen. Das kümmerte sich darum allerdings nicht und ordnete eigenmächtig einen Angriff der Flotte auf die Themse-Mündung an. Ein Himmelfahrtskommando, denn der Krieg war längst verloren und die britische Flotte der deutschen mehrfach überlegen. Die Folge war eine riesige Meuterei ab dem 29. Oktober: Matrosen löschten die Feuer unter den Kesseln der Kriegsschiffe in Wilhelmshafen und Kiel und hissten rote Fahnen.

Die Deutschen hatten während des Kriegs nicht nur die Frontopfer, sondern auch die 500000 Hungertoten daheim ertragen. Nun löst sich auch noch der immer wieder versprochene „Siegfrieden“ in Luft auf. Es brodelt in der Bevölkerung. Der Aufstand weitet sich schnell über ganz Deutschland aus. In vielen Städten bilden Matrosen, Soldaten und Arbeiter spontan Räte, die die lokale Kontrolle übernehmen. Mit Bayern erklärt sich am 7. November der erste deutsche Staat zur Republik. Die USPD trifft Vorbereitungen für eine Revolution, vor allem deren linker Flügel, die Spartakusgruppe unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, will sie vorantreiben.

Kaiser Wilhelm II. zögert. Am 9. November um die Mittagszeit verkündet Reichskanzler Max von Baden eigenmächtig dessen Thronentsagung. Reichskanzler sei nun SPD-Chef Friedrich Ebert. Über Max von Badens Beweggründe dafür wisse niemand Genaues, sagt der Mainzer Historiker Martin Göllnitz: „Er hat da vielleicht kopflos reagiert.“ Vielleicht habe er gefürchtet, die Revolution könnte völlig aus dem Ruder laufen, wenn der Kaiser auf dem Thron bliebe.

Zwei Stunden später tritt Scheidemann auf den Balkon des Reichstags. Anschließend streiten er und Ebert. „Du hast kein Recht, die Republik auszurufen!“, schreit Ebert seinen Parteifreund an. Er legt Wert darauf, Gesetze einzuhalten. Was aus Deutschland werde, solle eine verfassunggebende Nationalversammlung klären.

Deutschland hängt in der Schwebe, das parlamentarische und das Rätesystem bestehen nebeneinander. SPD und USPD bilden eine kommissarische Regierung. Aber zwischen beiden Parteien kommt es zum Bruch, weil die USPD die Räte favorisiert. Der linke Flügel der USPD gründet schließlich die KPD. Die Kommunisten katapultieren sich allerdings selbst aus dem politischen System, indem sie Wahlen boykottieren. Im Januar 1919 greifen linke Arbeiter zu den Waffen, was als „Spartakusaufstand“ bekannt wird. „Es gibt Historiker, die darauf hinweisen, dass dieser Name nicht zutrifft“, sagt der Wissenschaftler Göllnitz. Denn er legt nahe, dass der Aufstand durch die Spartakisten zentral gesteuert gewesen sei. „Das war definitiv nicht der Fall“, sagt Göllnitz.

Die Regierung greift bei der Niederschlagung des Aufstands auf die Freikorps zurück – Verbände ehemaliger Frontsoldaten, durch den Krieg brutalisiert und stramm rechtsradikal. Die Schlagetots brechen bis Mai den Widerstand. In Bayern und Bremen haben sich Räterepubliken gegründet – Regierungssoldaten und die Freikorps zerschlagen sie. Tausende Menschen sterben. Am 15. Januar ermorden die Freischärler auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. SPD-Mann Gustav Noske, in der provisorischen Regierung verantwortlich für das Militär, gilt vielen Menschen als Schuldiger für die Morde – er soll sie befohlen oder wenigstens gebilligt haben. „Ich halte das aber für unwahrscheinlich“, wendet Göllnitz ein. „Noske war zwar ein harter Hund, aber das allein ist nicht Beweis oder auch nur Indiz genug.“ Zudem sei die einzige Quelle, die auf Noske hinweise, ein Brief von Waldemar Pabst – jenes Freikorps-Offiziers, der Liebknecht und Luxemburg erschießen ließ. „Meine Vermutung ist, dass es vorauseilender Gehorsam von Pabst war“, sagt Göllnitz. Hinterher habe Pabst die Verantwortung dann an Noske abschieben wollen.

Am 19. Januar 1919 wählen die ­Deutschen – erstmals auch die Frauen – die Verfassunggebende Nationalversammlung. Sie tritt in Weimar zusammen, weil die Stadt sicherer als das von Unruhen geschüttelte Berlin ist. Gut ein halbes Jahr später, am 31. Juli, nimmt die Versammlung die Weimarer Verfassung an und wählt tags darauf Ebert zum Reichspräsidenten. Die erste deutsche Demokratie ist geboren. Die Arbeiter- und Soldatenräte spielen in ihr keine Rolle mehr.

Die Linke ist verbittert, weil die Regierung das Rätesystem gewaltsam bekämpft hat. Und die Demokratisierung erfasst nur den politischen Bereich: Im Beamtentum und Militär sowie in der Wirtschaft bleiben die reaktionären und antidemokratischen Eliten in ihren Positionen.

Die Weimarer Republik bis 1923

Die ersten Jahre der Weimarer Republik sind turbulent. Zu den Schwierigkeiten gehören die Belastungen aus dem Ersten Weltkrieg. Zunächst muss ein Waffenstillstand her, den der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger am 11. November in Compiègne unterzeichnet. Die Alliierten stellen harte Bedingungen: Rückzug der deutschen Truppen hinter den Rhein, alliierte Soldaten sollen das linksrheinische Gebiet besetzen. Die kommissarische Regierung will zunächst verhandeln, aber Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg schickt Erzberger mit den Worten nach Compiègne, die Lage sei so aussichtslos, dass er jede Bedingung akzeptieren müsse.

Die Regierung muss am 28. Juni 1919 den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnen, der den Ersten Weltkrieg offiziell beendet. Deutschland verliert 13 Prozent seines Territoriums, 50 Prozent seiner Eisenerz- und 25 Prozent seiner Steinkohleförderung sowie 17 Prozent seiner Kartoffel- und 13 Prozent seiner Weizenernte. Außerdem muss es die Alleinschuld am Kriegsausbruch auf sich nehmen.

Immer wieder erschüttern politische Morde die Weimarer Republik: am 15. Januar Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, am 21. August 1921 Matthias Erzberger, am 24. Juni 1922 der DDP-Außenminister Walther Rathenau. Fast immer sind die Täter Freikorps- oder Reichswehr-Angehörige.

Der Versailler Vertrag begrenzt die Stärke der Reichswehr. Als die Auflösung von Reichswehr-Verbänden bevorsteht, kommt es zum Militärputsch: Am 12. März 1920 marschieren Truppen unter den Generälen Wolfgang Kapp und Walther Freiherr von Lüttwitz nach Berlin. Kapp erklärt sich zum Reichskanzler. Der Putsch bricht allerdings zusammen, weil die Putschisten keinen Rückhalt in der Bevölkerung haben. Ein Generalstreik legt Berlin lahm, und Beamte weigern sich, Kapps Befehlen zu gehorchen. Während des Kapp-Lüttwitz-Putschs bildet sich eine „Rote Ruhr-Armee“, die bis Ende März das gesamte Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle bringt. Die Reichswehr schlägt bis zum 12. April den Aufstand nieder, rund 1300 Menschen sterben.

Als Deutschland mit Reparationszahlungen in Rückstand gerät, besetzen französische und belgische Armee am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet. Es beginnt der „Ruhrkampf“: Streiks und passiver Widerstand der Verwaltung, Freikorps und Kommunisten begehen Anschläge. Die Regierung zahlt die Löhne der Streikenden und finanziert dies durch den Druck zusätzlichen Gelds.

Wegen finanzieller Schwierigkeiten hat die kommissarische Regierung bereits am 11. November 1918 die Notenpresse angeworfen, was die kriegsbedingte Inflation noch mehr anheizt. Ab Juni 1923 gerät die Inflation völlig außer Kontrolle. Die Mark verliert ihre Funktion als Tauschmittel. Der Einzelhandel hortet lieber Waren, als sie gegen wertloses Geld abzugeben. Hunger und Plünderungen sind die Folge. Die Regierung gibt den Widerstand gegen die Alliierten auf. Außerdem beschließt sie eine Währungsreform: Eine Rentenmark entspricht einer Billion Papiermark.

Am 9. November 1923 versuchen Adolf Hitler und Erich Ludendorff in München einen Umsturz. Die Polizei schlägt den dilettantischen NSDAP-Putsch jedoch schnell nieder. nis

Die Dolchstoßlegende

Tonlos liest Paul von Hindenburg von einem Blatt ab. Eine „heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer“ durch die demokratischen Parteien sei schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg, sagt er am 19. November 1919 vor einem Untersuchungsausschuss der Verfassunggebenden Nationalversammlung. Der Generalfeldmarschall verliest auch ein angebliches Zitat eines ungenannten britischen Generals: „Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.“

Falscher und perfider könnte die Botschaft kaum sein. Das angebliche Zitat des Generals gab es so nie. Und das deutsche Heer war im September 1918 nicht „im Felde unbesiegt“, sondern stehend k.o. – und ausgerechnet die Oberste Heeresleitung um Hindenburg und den eigentlichen Machthaber Erich Ludendorff (Bild) war dafür verantwortlich.

Ludendorff hatte seine Soldaten seit Frühjahr 1918 in mehrere Großoffensiven geschickt, die alle blutig gescheitert waren. Als Briten, Franzosen und US-Amerikaner im Juli zum Gegenschlag antraten, waren alle Reserven verbraucht, die Deutschen hatten nichts mehr entgegenzusetzen. Sie mussten fast ganz Belgien räumen. Befehlsverweigerungen und Desertationen nahmen stark zu, die Zeichen offener Auflösung waren unübersehbar.

Ludendorff selbst warf den demokratischen Parteien die Trümmer seiner Politik vor die Füße. Im September erläuterte er dem Kaiser seinen Plan, die demokratischen Parteien – SPD, Zentrum und Fortschrittspartei, die kurz darauf in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) aufgingen – für den verlorenen Krieg verantwortlich zu machen. Nicht die militärische und politische Führung des Kaiserreichs sollte die Niederlage herbeigeführt haben, sondern die Novemberrevolution. Ludendorff und der Rechtsnationale Karl Helfferich haben das Papier formuliert, von dem Hindenburg abliest.

Diese Dolchstoßlegende ist ein direkter Angriff auf die Legitimität der Weimarer Republik, die die angeblich verräterischen Parteien gegründet haben. In den folgenden Jahren entfaltet sie eine zerstörerische Kraft, weil viele Menschen sie bereitwillig glauben – auch deshalb, weil die Niederlage für viele Deutsche überraschend kam. Immerhin hatte die Propaganda des Kaiserreichs stets getönt, ein „Siegfrieden“ stehe kurz bevor. Auch die Nazis greifen später die Legende auf und sprechen von „November-Verbrechern“.

Gerade ehemalige Frontsoldaten, die es besser wissen müssten, glauben gerne die Dolchstoßlegende, weil sie ihr vermeintliches Versagen rechtfertigt. Und schließlich war ja eine Revolution auf den verlorenen Krieg gefolgt – nur dass der Umsturz die Folge war, nicht Ursache. Für solche Feinheiten interessiert sich die Rechte aber nicht. nis

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