Es soll öffentlich wieder mehr von Gott die Rede sein

Thomas Niederberger sieht fundamentalen Wandel der religiösen Situation – Perspektivwechsel für friedliches Zusammenleben unerlässlich

Schützt vor Radikalisierung: Die Klärung des Gottesbegriffs ist eine wichtige Aufgabe des Religionsunterrichts. Foto: epd

Die Frage nach Gott muss nach Ansicht von Thomas Niederberger wieder aus den Räumen der Privatheit in den öffentlichen Raum getragen werden. Spätestens seit der Jahrtausendwende gelte die These nicht mehr, dass die Gesellschaft immer säkularer werde, sagt der Leiter des Amts für Religionsunterricht der Landeskirche. Wenn sich radikal religiöse Menschen und Gruppen bei ihren Aktionen oder gar bei Terroranschlägen explizit auf einen Gott beriefen, sei die Gesellschaft provoziert, sich der Gottesfrage anzunehmen. Der Re­ligionsunterricht in allen Altersstufen trage dabei besondere Verantwortung.

Die religiöse Situation in der Gesellschaft habe sich fundamental geändert, sagt Niederberger. Die christliche Tradition breche mehr und mehr ab, und die großen Kirchen verlören an Bindekraft. Auf der anderen Seite gebe es eine große Offenheit für neue Typen von Religiosität, die sich die Menschen häufig sehr individuell selbst zusammenstellten. Gleichzeitig nähmen die Extreme zu. Sowohl was religiöse Ansichten betreffe als auch auf der Seite der Gegner von Religion. Nach Ansicht des landeskirchlichen Beauftragten für den Religionsunterricht nimmt die Einsicht bei Lehrern, Schulleitungen und Eltern zu, dass religiöse Bildung für die friedliche Zukunft der Gesellschaft unerlässlich ist. Dazu gehöre die Klärung des Gottesbegriffs, was vor Radikalisierung schützen könne. Diese Radikalisierung finde nicht nur aufseiten religiöser Fundamentalisten statt. Als Reaktion radikalisierten sich auch Teile der Gesellschaft in ihrer Gegnerschaft bis hin zum Hass auf alle Muslime.

Religiöse Erziehung müsse das Bewusstsein für die Perspektiven stärken, in denen Menschen über Gott denken und reden, sagt Niederberger. Dabei sei es Aufgabe des Religionsunterrichts, durch konkretes Reden von Gott und durch gelegentliches Einüben der Gottesverehrung mit Gebeten, Liedern und Andachten die religiöse Innenperspektive zu klären. Nur wer seinen Glauben ernst nehme, werde von anderen in seinem Glauben ernst genommen.

Ziel des Religionsunterrichts sei, das weitverbreitete Klischee zu überwinden, bei unterschiedlichen Religionen handele es sich lediglich um Meinungen, die alle gleichwertig seien, sagt Niederberger. Dies werde der Tatsache nicht gerecht, dass Christen, Juden, Muslime, aber auch Agnostiker und Atheisten jeweils einen letztgültigen Wahrheitsanspruch erhöben. Und genau dies sei das Gefährliche an Religion. Deshalb müsse im Unterricht der Wechsel von der religiösen Innenperspektive zur Gesellschaftsperspektive eingeübt werden, sagt Niederberger. Diese Pluralitätsfähigkeit sei eine entscheidende Voraussetzung für ein friedliches Miteinander. In der Innenperspektive seien die Wahrheitsfragen der Religionen relevant, in der gesellschaftlichen Perspektive Rechts- und Verhaltensfragen. Das Grundgesetz schütze die Religionen und stehe gleichzeitig über ihnen. Es regele das gesellschaftliche Zusammenleben, ohne die Absolutheitsansprüche der Glaubensgemeinschaften zu beschneiden.

Die zivilisierende Kraft religiöser Bildung liegt laut Niederberger darin, dass sie die eigene Innenperspektive stärke, den Respekt vor anderen Wahrheitsansprüchen erhöhe und gleichzeitig die gesellschaftliche Perspektive für ein friedliches Zusammenleben deutlich mache. Und in diesem Dreischritt lägen auch die Vorteile gegenüber einem auf rein ethische Belange reduzierten Religionsunterricht.

Religiös vorgeprägte Schüler fühlten sich ernst genommen und seien so stärker gegen Radikalisierung geschützt. Durch das Bemühen um Respekt vor ihrem Glauben sähen sich islamische Gemeinden ernst genommen. Dieser Respekt führe dazu, dass das Verhältnis der Religionen in einer pluralen Gesellschaft mehr sei als gute Nachbarschaft, sagt Niederberger. Er könne dazu führen, dass sich Muslime leichter auf Begegnungen, auf Zusammenarbeit und auf die rechtlich-gesellschaftlichen Erfordernisse der pluralen Gesellschaft einließen, als das bisher der Fall sei. koc

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